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Wolfgang Feige,
Jahrgang 1951, hat Literatur
studiert, war im »Öffentlichen Dienst«, auch »Deutschlehrer«, arbeitet
derzeit als »Werbekaufmann« in Nürnberg.
Eine Gebärde des Verstehens
Wer einen literarischen Text liest und ihn danach ohne viel Aufhebens
beiseite legt, kann zumindest nicht Literaturprofessor werden. Doch Leser
fürchten oder argwöhnen, dass Lesen nur eine Methode ist, Zeit
totzuschlagen, wenn sie keine Idee haben, wie sie dieses Lesen verwertbar
machen können. Verwertbarkeit oder Nutzen sind in der Tat Maßstäbe
vernünftigen Lesens. Man will es einfach nicht bei der bloßen Lektüre
bewenden lassen, und die Folgen der Lektüre sollen auch noch mit der Lektüre
selbst im Zusammenhang stehen. Die Basis-Form der Textkritik ist die
Rezension, die Empfehlung oder Nichtempfehlung von Texten an andere Leser
bis zum handfesten Weiterreichen eines Textes, aber auch seine Verweigerung
oder gar Vernichtung. Fordert jemand Begründungen, entsteht ein Text über
einen Text oder eine Lektüre, eine Art Gutachten oder Lese-Bericht. Die
Textlawine kommt ins Rollen. Denn der nächste Rezensent ist anderer Meinung
und hat eine andere Empfehlung bzw. schreibt einen Gegentext. Wer hat Recht?
Was kann man von einem Text wissen?
Wer fünf Minuten in einem 1000-Seiten-Schinken blättert und dann
etwas Vernünftiges, Nachprüfbares und Erhellendes darüber schreibt, der kann
das tun, ohne ein Scharlatan zu sein. Die Vorstellung, einen Text in- und
auswendig zu kennen und alles, was schon darüber geschrieben wurde
ebenfalls, ist nicht nur unmöglich, sondern auch schädlich. Gott sei Dank
vergisst man vieles schnell wieder. Wenn es wichtig war, erinnert man sich
schon. Man glaubt dem Text. Man zweifelt ihn an. Man sagt sich, man wüsste
jetzt genug von ihm. Nichts davon ist messbar. Es ist nicht einmal sicher,
dass zwei Leute, die den gleichen Text hernehmen, auch den gleichen Text
lesen, weil ihre internen Wörterbücher unterschiedlich eingerichtet sind.
Früher klagte man, dass doch alles sinnlos wäre ohne Gott. Das Leben scheint
heutzutage ohne göttliche Direktiven auszukommen. Selbst diejenigen, die
darauf beharren, Gott habe sie und das Universum geschaffen, verhalten sich
mangels Kontakt, mangels handfester Hinweise so, als wären sie sich selbst
überlassen. In der Textkritik ist es offensichtlich nicht so leicht, ohne
ein höheres Wesen zu leben.
Nach wie vor beharrt der Leser auf der Existenz und der Forderung nach der
Suche eines Textsinns, den der Autor als ‚kleiner Schöpfer’ hergestellt
habe. So, wie der Mensch hoffentlich irgendwann lernt, ohne Seele und ohne
Bestimmung zu leben und dennoch nicht zum faschistoiden Monster zu werden,
so wird er lernen müssen, ohne Sinnkorrektiv und ohne Richtigkeiten Texte zu
kritisieren, wenn er in einer Welt von Texten leben will. Ein Text ist auch
ohne Sinn ein Text. Was wird untersucht? Die Leser der Texte über Texte
haben bestimmte Erwartungen: Unausgesprochenes auszusprechen ein Konzentrat
ins Gebrauchsfertige zu verdünnen, esoterische Formeln ins Normalsprachliche
zu übersetzen und mehr – es gibt eine verwirrende Anzahl und Varianten von
verklärenden Zielen für das simple Handwerk der Textanalyse.
Ein Text kann nicht
Gegenstand einer Untersuchung sein. Es ist nicht logisch, einen abstrakten
Gegenstand zu kennen, den man untersuchen möchte. Der zu untersuchende
Gegenstand kann erst am Ende der Untersuchung bekannt sein.
Kennt man ihn, benennt man ihn. Das heißt, man kennt ihn, indem man ihn –
mehr oder weniger ausführlich benennt. Die Neugier ist der Gegenstand vieler
Untersuchungen. Eine skeptische Arbeit untersucht die Gestalt ihrer Skepsis.
Die Behauptung, eine richtige Interpretation sei unmöglich, weil jeder Text
zwar logisch notwendig einen vom Autor ausgelösten Sinn besitzt, dieser aber
nicht auffindbar ist (nicht einmal vom Autor selbst), löst mein
Neugierverhalten aus. Ich bin neugierig, was mich an einem Text
interessiert.
Jeder Text provoziert eine Reaktion. Das ist Textkritik. Der Textkritiker
ist zunächst allein mit seiner Kritik und seinem Text. Kommt noch jemand
hinzu, der ähnliche Voraussetzungen zu haben scheint, und sprechen die
beiden hierüber, dann beginnt eine abstrakte Auseinandersetzung. Das ist
Methodenkritik. Indem sie vorgeben, über den Text zu reden, reden sie über
ihre Methode, den Text zu kritisieren. Eine Diskussion beginnt, eine Show,
eine formale Prozedur: Wer Applaus bekommt, hat seine Leser nicht überzeugt,
er hat sie unterhalten. Jetzt ist er ihr Gott. Es gibt Tausende von
Methoden, Texte zu kritisieren. Wenn der Beobachter rätselt, warum ich
dieses Buch nach zehn Stunden intensiver Lektüre wortlos ins Regal
zurückstelle, und nicht nur er mich beobachtet, sondern ich ihn insgeheim
genau so, ist sogar eine solche Fantasie ein Stück Textkritik.
Wie jemand versteht, versteht man nicht.
Man kann aber versuchen festzuhalten, wie man sich über das
verständigt, was man angeblich versteht. Der Versuch, einander zu
überzeugen, ein Text sei dies oder bedeute jenes, geht fehl. Einen richtigen
Weg gibt es nicht. „Ein Rabe, dem man ein ihm völlig unbekanntes Ding
vorsetzt, (...) beginnt vorsichtigerweise mit den Bewegungsweisen des
Hassens auf ein größeres Raubtier, d.h. er naht sich dem unbekannten Objekt
vorsichtig, indem er fluchtbereit seitwärts und sogar etwas rückwärts gehend
an es heranschleicht, versetzt ihm einen fürchterlichen Schnabelhieb und
flieht auch schon, so schnell er kann. Erweist sich das Objekt als lebend
und flieht, so ist der Rabe sofort hinterher und geht zu den Bewegungsweisen
des Tötens größerer Beute über. Ist das Objekt »schon tot«, wovon sich der
Rabe durch immer heftiger werdende Schnabelhiebe vergewissert, so packt er
es mit den Krallen an und versucht es zu zerreißen. Erweist es sich dabei
als essbar, so kommen die Bewegungsweisen des Fressens und des Versteckens
von Beute an die Reihe, ist das Objekt zu überhaupt nichts brauchbar, so
wird es dem Raben allmählich uninteressant und wird unter Umständen als
Sitzplatz, oder in Stücken zum Verstecken interessanter Gegenstände
verwendet.
(Konrad Lorenz, Vergleichende Verhaltensforschung)
Wer ‚subjektiv’ sagt,
meint, dass etwas nur für einen selber gültig ist, ‚objektiv’ heißt
allgemeingültig. Grob gesagt. Grob verstanden. Die Geisteswissenschaften,
die keine Allgemeingültigkeit kennen, haben sich das dafür eine
Hilfskonstruktion ausgedacht, damit man ihnen keine ‚subjektive
Beliebigkeit’ nachsagen kann. So nennt man etwas ‚intersubjektiv’, wenn man
sich über etwas verständigt hat. Sehr grob gesagt. Aber auch das
Intersubjektive muss erst hergestellt werden. Jeder kann dem anderen
bezüglich dessen Aussagen Intersubjektivität absprechen. Dieser Gefahr
begegnet man mit der Medizin des ‚guten Willens’. Wenn die fehlt, ist die
Diskussion unfair. Dann kann man aufstehen und gehen. Wenn keiner geht
beziehungsweise nur einzelne verschwinden, wird abgestimmt. Das ist zwar
nicht gut für die Qualität, aber dafür auch nicht demokratisch, denn die
Macht liegt weiterhin in der Hand derer, die geeignete Situationen und
abstimmungsbereites Publikum organisieren. Doch selbst das reicht noch
nicht, wenn die Leute nicht sehen, worüber abgestimmt werden soll und die
Abstimmung verweigern. Das bedeutet, ein Phänomen muss her. Der Textkritiker
muss darauf zeigen können. Die geheimnisvolle Eigenschaft dieses Dings ist
es, aufzutreten, um daraufhin analysiert zu werden. Hat die Verständigung
endlich geklappt, sind sich die Textkritiker über ein Textphänomen einig
geworden, zwinkern sie sich wohlwollend zu, und sie hoffen inständig, dass
ihr Zwinkern das Zwinkern des Anderen ist. Was ist ein Textphänomen? Zumeist
das, was im Text nicht steht. Wozu ist es da? Um Verborgenes aufzudecken.
Der Leser fühlt sich
jedenfalls nicht konstruiert. Er sieht sich als das Ergebnis eines kreativen
Akts, als Teil eines offenen Systems, in dem sich das Produkt selbst
produzieren und gestalten muss. Und so macht er es mit allem, was er sieht
und liest. Dieses Interpretieren ist eventuell ein Überbleibsel aus der Zeit
der Jäger und Sammler, in der kleinste Anzeichen große Gefahren verraten
mussten, damit man schnell reagieren konnte, statt gefressen zu werden.
Texte sind meist ziemlich wirkungslos. Die einzige Gefahr, die dem Leser
droht, ist das Missverständnis. Es ist die Abweichung von der Norm, wenn man
auf einer Beerdigung lacht oder bei einem Witz heult. Oder wenn man zehnmal
hintereinander dasselbe sagt. Wenn der Leser die Abweichung nicht bemerkt,
benötigt er eine Analyse und eine Therapie. Dazu sind die Texte über Texte
da, die so genannte Sekundärliteratur.
Natürlich gibt es auch Verrisse, meistens aber soll die Sekundärliteratur
den Autor und sein Werk loben, die nicht genug gelobt wurden, das Volk
belehren, weil es nicht richtig aufgepasst hat, Falsches richtig stellen,
Krummes geradebiegen, Vergessenes in Erinnerung rufen und so weiter, kurz,
Verhaltensweisen korrigieren. Diese Verhaltensweisen sind in den Texten, die
der Leser nicht versteht, eventuell bewusst missverständlich dargestellt,
mit Ironie und anderen Tücken verschlüsselt, von kreativen, aber krankhaften
Autoren zur Verführung benützt, damit ihre Texte besprochen und diskutiert
werden. Sprechen ist ein Verhalten, mit dem vielleicht Bedeutung
transportiert wird. Bedeutung ist ein sehr privates Phänomen.
Wortbedeutungen sind dabei noch das geringste Problem. Bei der Beurteilung
von Figuren, Situationen oder abstrakten Faktoren wie Spannung,
Glaubwürdigkeit oder Langeweile gehen die Meinungen oft weit auseinander.
Solange uns für den Transport von Bedeutung nur die Sprache zur Verfügung
steht, werden wir das Problem der Privatheit nicht lösen können. Nicht mit
noch so viel Augenzwinkern. In der Beurteilung von Texten gilt in der Regel,
dass das Leben und Treiben in ihnen dem Leben und Treiben auf der Welt aufs
Haar gleicht. Die Textkritiker können da nicht widerstehen und lassen auch
in ihren Texten das pralle Leben herrschen. Sie produzieren eine Art
Sekundär-Kunst.
Für Leser und Kritiker, die keine Künstler sein wollen, gilt es, Verfahren
zu entwickeln, durch die es möglich wird, die verwirrende Ganzheit und
Egozentrik der privaten Textinszenierung, die Stetigkeit und
Abgeschlossenheit seiner Gestalt, aufzubrechen und die übersichtlich
montierten Details als eine für einen genau definierten Zweck hergestellte
Version zu veröffentlichen. Die Interpretation beim Lesen ist gewiss eine
Art unwillkürlicher Reflex, der aber bei der literarischen Analyse
zurückgestellt werden muss, bis der Kritiker sich durch sorgfältige
Notierung vergewissert hat, mit welchen und wie hergestellten Textgrößen er
operiert, welche und wie er textexterne Daten in sein Textmodell integriert,
ob und welcher Regelmäßigkeit er sich dabei für die Kommunikation mit
anderen über das Ergebnis bedienen kann.
Das sind fromme
Wünsche. Der Leser und seine Lesekunst nämlich mutieren unaufhörlich, und
seine Beobachtung und die Beobachtung seiner Aktivitäten sind eine Sisyphus-
Arbeit, die immer nur tendenziell gelingen kann. Zur Erklärung menschlicher
Textproduktion und ihrer Bedingungen genügt das einfache Modell des
einseitigen Sprechens: Wenn wir uns die Welt als eine Welt von Texten
denken, so ist die Interaktion von Texten die Bewegung, die in ihr herrscht,
so, wie man sagt, dass die Beziehungen zwischen Informationen wichtiger sind
als die Informationen selbst.
Eine Gebärde des Verstehens ist das Verstummen des Lesers, als ein Grenzfall
sein Stummsein oder Stummbleiben. Eine Gebärde des Nichtverstehens ist der
Beginn des Sprechens, und dabei ist kein Grenzfall denkbar, es sei denn, ein
Leser spricht ohne Ende. Zwischen diesen beiden Bewegungen, innerhalb des
Raums zwischen dem negativen und dem positiven Vorzeichen dieser einen
Bewegung, konstituiert sich ein Text. Lesen, Hören, Schreiben oder Sprechen
sind Varianten desselben Vorgangs: des einseitigen Sprechens ohne
metaphysische Kontrollinstanz. Was aber kann man dann überhaupt noch über
das Text-Verständnis sagen?
Die wortwörtliche Wiederholung eines Textes als Nachweis, diesen verstanden
zu haben, ist natürlich ungeeignet. Über Texte zu kommunizieren wird sich
nicht vermeiden lassen. Außerdem findet diese Kommunikation auch innerhalb
eines Lesers statt. Die Herstellung von kommunikativen Größen erfordert ein
argumentatives System, das durch ständig mögliche Rückkopplungen und
operationale Eindeutigkeit zwischen Primärtext und Sekundärtext den
Unterschied zwischen Verstehen und Erklären im wahrsten Sinne des Wortes
gegenstandslos macht. Ein solches ‚interaktives’ System zwischen Textdaten
und ihrer Verwendung ist gleichermaßen unabdingbar für Kontexte, die bei der
Textbeobachtung hinzugezogen werden.
Die Methode der
Auffindung und die Beschaffenheit dieser Kontexte steht jedem wiederum frei,
nicht aber die Methode ihrer Verwendung, ihrer formalen Aufbereitung (d.h.
wiederum Analyse und Interpretation) und schließlich ihrer Integration in
den aktuellen Sekundärtext. Die ach so moderne Festlegung, der Autor dürfe
selbstverständlich nicht mit dem Erzähler eines von ihm geschriebenen Textes
verwechselt werden, wird immer wieder durchbrochen, wenn über Texte
gesprochen wird. Verweise auf andere Texte des gleichen Verfassers, seien es
‚künstlerische’ oder gar ‚private’ Textgrößen (Briefe, Berichte, Anekdoten)
sprechen eindeutig eine andere Sprache. Sie zeigen die sorglose Verwendung
von Psycho-Daten für die Analyse nicht von Literatur, sondern von Literaten.
Erzählen ist ‚in Wirklichkeit’ eine mythische Projektion, eine Aussage, die
sich eines primären Zeichensystems bedient, um ein sekundäres, Modelle
bildendes Zeichensystem herzustellen. Diese Markierung des Sprechens als
Modell ist unbedingt zu respektieren, auch wenn sie immer umgekehrt möglich
ist, d.h. ein nicht markiertes Sprechen kann immer in ein markiertes,
modellhaftes Sprechen umschlagen. Dann wird aus einer Gebrauchsanweisung
oder einer Aufschrift Literatur. Der Sündenfall liegt in der Transformation
eines literarischen Textes ins primäre Zeichensystem oder die unsaubere
Verquickung beider.
Eine der grundlegenden Erkenntnisse über einen Text ist die seiner
räumlichen Ausdehnung. So, wie sich der Mensch befriedigend in dem ihn
umgebenden Raum orientiert, obwohl ihm sein physiologischer Apparat kaum
mehr als 120° Gesichtsfeld bietet, so bildet sich beim Lesen eines Textes
beliebigen Umfangs eine räumliche Vorstellung aus, ein System von
‚Inhalten’, deren Gewichtung und Konstellation durch Erinnern und Vergessen
ständig variiert.
Die Methode der Wiedergabe eines Textes ist deshalb der erste und alles
weitere bestimmende Schritt bei der Textanalyse, das erste und alles weitere
entscheidende Kriterium für das Gelingen präziser Aussagen über einen Text
bzw. deren Gültigkeitsprüfung. Textinszenierungen (Interpretationen) gibt es
so viele, wie es Leser eines Textes gibt, doch alle sind sie hergestellt mit
wortwörtlichen Zitaten, ausweitenden oder verkürzenden Umschreibungen,
koordiniert durch die Reihenfolge ihres Auftretens, ihrer Häufigkeit und
Verteilung, der gebildeten Über- und Unterordnungen sowie der angebotenen
Varianten.
Durch die unterschiedliche Verwendung und Kombination dieser
Wiedergabetechniken sowie den Textumfang werden unterschiedliche Textsorten
produziert.
Würde jedes dieser verwendeten Text-Einheiten mit seiner Herkunft im Text
und der verwendeten Wiedergabe-Technik gekennzeichnet, wäre die entstehende
Ausführlichkeit einer Programmsprache durchaus nicht ohne Grund ähnlich.
Sekundär-Literatur ist entweder ein Programm, mit dem man einen Text besser
lesen kann als ohne, oder nur ein weiteres Stück Literatur.
Die Verhinderung ‚globaler’, ‚inspirierter’ Argumentation würde zum Teil
schreckliche Wunder wirken. Impulsive Querverbindungen, gebildete
Name-droppings, vage Ähnlichkeiten entfielen, weil jeder Verweis (wie ein
Link in HTML) auf eine konkrete Stelle im Text zeigen und sagen müsste,
welche Stelle er wortwörtlich zitiert oder ausweitet oder verkürzt, ob sie
in einem und in welchem besonderen argumentativen Zusammenhang mit dem
Gesamttext steht oder genau welchen Gedanken sie belegt. Und das gälte
natürlich für den Basis-Text genau so wie für weitere, hinzugenommene Texte,
die gerne „Kontexte“ genannt werden, um zu beanspruchen, dass man sie frei
schwebend und ohne genaue Benennung verwenden dürfe. Die private
Text-Meditation würde sich zurückentwickeln. Die Forderung eines Textes,
interpretiert zu werden, wird sowieso überschätzt.
Aussagen über Leseeindrücke sind vor allem hinsichtlich ihrer Form, ihrer
Methode einschätzbar. Die technischen Mittel dafür, Vorgänge zu
rekapitulieren, die der Sichtbarmachung jener virtuellen Benutzeroberfläche
dient, die sich der Leser eines Textes beim Lesen herstellt, sind ja längst
vorhanden, werden aber in der textkritischen Erwägung nicht oder kaum
eingesetzt. Es muss Software geschrieben werden, die Texte markierten
Sprechens befragen kann. Der Leser braucht ein Tool, mit dem er verstehen
lernt, wozu er Literatur liest, worauf er abzielt, wohin es führt, wenn er
über literarische Texte spricht. Verstehen Sie?
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