Leseprobe:
Es ist kurz vor Mitternacht. Um am Nachtleben teilnehmen zu können, muss ich mich noch ein bisschen gedulden, denn vor Mitternacht geht hier kein anständiger Gast in eine Bar. Ich vertreibe mir die Zeit mit einem Glas heißen Gin, auf meinem Smartphone lese ich den aktuellen Blog von Vedrana. Sie berichtet, dass sie beim Müllcontainer ihre Nachbarin getroffen und mit ihr sehr nett geplaudert habe. Sie unterhielten sich über Ungeziefer, Preiserhöhungen und Ehemänner und kamen letztendlich beim Begräbnis des verblichenen Bürgermeisters an. Die ganze Kremdelakrem (sic!) der kroatischen Mafia sei um das Grab herumgestanden, der Priester habe geschwitzt und die beiden abfallentsorgenden Damen fragen sich, ob man die Petition für die Seligsprechung des Verstorbenen unterschreiben sollte. Diese sei nämlich bereits online abrufbar. Dann kamen sie auf ein weiteres aktuelles Thema zu sprechen, und zwar die Namensgebung für Straßen und Gassen. Vedrana wohnt in der Partizanski put, also am Partisanenweg. Obwohl dies wahrscheinlich ein Zufall ist, kann man sich keine passendere Adresse für Vedrana ausdenken. Nun wird beabsichtigt, dieses Gässchen umzubenennen, man weiß aber noch nicht, wie man es künftig nennen soll. Jedenfalls, um Gottes willen, nichts Kommunistisches, allerdings muss es unbedingt etwas Antifaschistisches sein. Und nun bekommt Vedrana einen Schreikrampf, man kann ihn zwar nicht hören, aber man spürt ihn. Wenn ihr Blog könnte, würde er jetzt explodieren. Gezündet durch die Bemerkung der Nachbarin, sie habe gehört, dass das Stadtparlament entschieden habe, das Denkmal am Ende des Partisanenweges, welches einst zu Ehren toter Partisanen errichtet worden ist, in die Luft zu jagen. An dessen Stelle werde die Büste des seligen Bürgermeisters aufgestellt.
(S. 85)
© 2022, Otto Müller Verlag, Wien