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Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer

Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2022.
Hardcover, 352 Seiten, 24,- Euro.
ISBN: 978-3-10-397104-0.

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Leseprobe

Das Personal in Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Wilderer" ist unheimlich vertraut. Schon im 2016 erschienenen "Fremde Seele, dunkler Wald" ist es der Jungbauer Jakob mit seiner Familie, für welche das Prädikat dysfunktional fast beschönigend erscheint. Um es mit dem berühmten Tolstoi-Aphorismus zu umschreiben, ist die hier geschilderte Familie Fischer unglücklich auf ihre eigene oberösterreichische Weise.

Wenn Unglück nicht bloß als Definition eines Ereignisses verstanden wird, sondern als beklemmendes Lebensgefühl, würde der Protagonist Jakob dafür eine Idealbesetzung darstellen. Es ist eine chronische Unruhe in ihm. Diese lädt sich an den Umständen wieder und wieder auf, findet mühelos Nahrung in nebensächlichen Geschehnissen und bricht im Jähzorn aus. Die Unruhe findet jedoch kaum dauerhafte Auflösung. Geschickt steuert das Erzählte diese Erwartungshaltung, wenn der Protagonist zum Beispiel ehrfürchtig mit dem Revolver spielt oder einen Stein hebt und ihn in Gedanken nach seiner Schwester wirft. Es ist keine geringe literarische Leistung, dass einem dieser Protagonist widerwärtig ist und dennoch nahe geht. Diese Ambivalenz von Teilnahme und Ablehnung schafft eine Spannung, die bleibt, auch wenn das Geschehen am Hof im Rosental südlich des Geburtsortes von Kaiser-Mühlecker (Kirchdorf an der Krems) so selten nicht von der Mühe landwirtschaftlicher Arbeit bestimmt ist. In dem Haus leben drei Generationen. Es wäre zu viel zu behaupten, sie lebten gemeinsam. Einige Themen hallen aus dem Vorgängerroman nach: der Vater Bert mit seinen kruden Ideen verschwindet mehrmals spurlos für Tage, was als normal empfunden wird. Die Mutter ist eine große Abwesende, obwohl sie dauernd im Haus hockt. Die Großmutter siecht in ihrem Bett und droht, dass sie den Besitz der "rechten Partei" vermacht. So weit kommt es nicht. Sie wendet sich am Sterbebett Jakob zu und sieht in ihm einen anderen als seinen Vater, einen, der anzupacken versteht und mit den Füßen auf dem Boden steht.

Der Erzählstoff taugt als Bildungsroman oder vielmehr als verhinderter Bildungsroman, dessen Protagonist ansetzt zur Wandlung und dann doch auf der Stelle festtritt. Mit der Erschließung des Anwesens wächst Jakob in die Verantwortung hinein. Da gehört das Scheitern mit der Fischzucht dazu. Überhaupt versteht er es, Rückschläge auf seinen Feldern, die ihm vertraut sind, wegzustecken und weiterzumachen. So verpachtet er beispielsweise die Teiche, nachdem er gegen den wildernden Graureiher, der seine Zuchtambitionen vereitelt, den Kürzeren zieht. Ein Entschluss, der mit ökonomischem Erfolg verbunden ist. Es wäre aber nicht Jakob, würde nicht Neid in ihm aufblitzen, weil die Pächter mit Wilderern keine Probleme bekommen. Das Leitmotiv des manischen Jagens durchzieht den Roman auf mehreren Ebenen, auf der Ebene des Blutrausches, dem auch der beste dressierte Hund verfallen kann, genauso wie auf der Ebene der Lebenskonzepte. So taucht unvermutet die Künstlerin Katja in Jakobs Leben ein. Es erstaunt, dass trotz des ausdauernden Argwohns von Jakob aus beiden erst ein Paar, dann Verheiratete und schließlich Vater und Mutter werden. Mehrfach wird auch dieses Verschränken einander entgegengesetzter Lebensweisen als Wilderei interpretiert. Es bleibt eine Fremdheit zwischen beiden, auch wenn es immer wieder Momente starker Nähe gibt.

Allmählich wird aber klar, dass das eigentliche Thema des Romans die Wildnis in Jakob selbst ist, der allen schroff begegnet und der dann doch in seinen inneren Monologen viele Nuancen erkennen lässt. Selten kann man in einem Roman eine solche Diskrepanz zwischen verkürzten, fast erstarrten Dialogen bei gleichzeitig ausufernden Introspektionen finden. Gerade durch diese Konstruktion wird das Schweigen, das diese Familie verhüllt, noch drückender.

Man fiebert mit diesem Verschlossenen mit, der bei seinem Sohn Marlon die eine oder andere Zärtlichkeit zulässt, und ist übermäßig dankbar dafür. Denn sowohl die Geschwisterbeziehungen zu Luisa und Alexander als auch die Ehe mit Katja erodieren allmählich. Auf Seite 178 urteilt Jakob über seine Schwester und gleichzeitig seinen Bruder so: "Sie war ein wenig wie schlechte Luft, die einem entgegenschlug, wenn man einen Raum betrat: Man wich kurz zurück, aber man gewöhnte sich daran … Nur dass sie Alexander so nannte (Anm. Versager), das war ihm nicht gleichgültig. Gefiel ihm nicht. Obwohl er den Ältesten selbst für einen üblen Versager hielt, fand er, sie, eine noch viel üblere Versagerin, sei die Letzte, die ihn so nennen durfte."
Zwar werden Erklärungen für die Spannungen zwischen den Familienmitgliedern wie Brosamen ausgestreut, aber sie dienen bloß zur Unterfütterung und schaffen keine erhellende Betrachtung. Dass etwa Luisa gar nicht das Kind von Bert ist, ist wie dahingesagt; es entspinnt sich daraus kein Streit, kein Aufklären, weil sich alle einem reinigenden Konflikt verweigern und stets knapp daran vorbeischrammen – Luisa durch Trotz und Albernheit, Jakob durch barsches Verhalten. Einzig Katja schafft es am Beginn öffnend zu sein, der verkrustete Jakob wird durchlässiger. Aber dann entfernt sie sich von diesem ländlichen Leben, wird wieder angezogen von der Stadt, kehrt heim in ihre Kunst.

In der zweiten Romanhälfte kommt der Hund Axel auf den Hof. Obwohl vom Vater angeschafft, kümmert sich dieser nicht um ihn. Instinktiv knüpfen Jakob und der Hund eine Verbindung, die bald zur Symbiose wird und zum archaisch-brachialen Finale führt.

Die an Antiheimat-Literatur reiche österreichische Literatur hat viele Stoßrichtungen, beispielsweise das Abarbeiten an katholischen Formeln wie bei Josef Winkler oder die Tristesse des landwirtschaftlichen Arbeitens und Ausbeutens wie bei Franz Innerhofer. Kaiser-Mühlecker hat seine eigene Stoßrichtung, ein fast biblischer Sog des Unausweichlichen zieht sich durch seine Bücher, wenn das dünne Tuch der Zivilisation weggeschoben wird. Stimmig ist dieser Roman abgeschlossen und er stimmt einen wahrlich düster. Der abendliche Blick auf die Autobahn in der Ferne, deren Rauschen immer an seinen Hof, seine Veranda gelangt ist wie eine Metapher dafür, dass Jakob nie zur modernen Welt dazugehören wird. Zur traditionellen aber eben auch nicht.

Rezension von: Alexander Peer

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich, sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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