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Regine Koth Afzelius: Die Leibwächterin

Leseprobe:

Da ist er ja, der Lenz. Eifert vor den Fenstern rum. Endlich in der Arbeitspause gehn wir raus zu ihm, lassen uns unter den Arkaden in den Sonnenfleck auf der Hofbank fallen, der Hund liegt schon in der Stimmung.
Es knospet in Büschen, knackt aus den Ästen und treibt aus der feuchten Erde; alles, was sprießen und nach oben zum Licht kann, strahlt einen an mit einem Grün, das aufseufzen lässt vor Leben, duftet einen ins Veilchenmeer der Kindzeit, bevor die Osternester aufblitzten, und zum Maulwurfsgift, das im frisch gemähten Rasen aus den Löchern der feindlichen Erdhügelgipfel dampfte. Für die Duftimprägnierung entscheidend war die kindliche Absichtslosigkeit; keine Pläne, nichts Bess'res zu tun, nirgends hingeeilt; auf einem Weg voll Ringelblumen und Ligustern verträumt die Schultasche nach Haus geschleppt, von einem Ortsende ans andere, und ziellos Zeit verbracht im Garten; den Düften hingegeben, weil sonst nichts im Kopf. Dermaßen reizarme Umwelt damals – schon ein Duft für sich genommen markierte ein Ereignis; der erste selbst gefasste Plan? Da war's noch lange hin.
»Als meine Mutter nicht mehr wollte«, sagt Finn ins Laue und wir greifen dabei abwechselnd nach geschälten Apfelspalten zwischen uns auf der Bank, »konnte ich keinen Wert darin erkennen, neben ihr im Heim zu sitzen. Wartete dort angespannt, bis die Zeit um war, weil mich stresste, meinen Alltag nach ihrem zu richten, und ohnehin vergaß sie gleich, dass ich sie besucht hatte. Aber dann ging mir ein Licht auf.« Trotz glitzernden Gezwitschers rund um uns kreist Finn anscheinend um das Faktum Endlichkeit. Er zieht die Füße aus den Holzschuhen und unter sich, sofort senkt sich die Hundeschnauze auf die leergewordene Hülle. Ich warte, wo Finn gedanklich hinwill; nicht und nicht fährt er die Fühler aus, die mich interessieren würden, weshalb ich am liebsten still in gemeinsamer Betrachtung von irgendwas neben ihm sitze und vor mich hinspintisiere, doch diesmal trifft er zwei Nerven. Während er spricht, wippt er die Knie zueinander, was ich trotz des ernsten Themas als körperliche Geste mir gegenüber deute und mitspüre, wie er durch jedes Wippen seine empfindlichsten Teile zusammenpresst und stimuliert; nun streckt er die Beine von sich, die oliven Bundesheersocken bewegen ihre Spitzen auf und ab, mir winken die langen Zeigezehen zu. Ich schaue in sein Gesicht. Eine Ernsthaftigkeit, die mich anspricht. Vielleicht sollte ich ihn befreien wie Senta den Fliegenden Holländer. Zumindest vom Holzstaub auf dem Bartschatten. Er schabt aber selbst mit den Handflächen über die Wangen. Reibt mit den Fingerknöcheln die Lider. Mit offenem Hemd über weißem T-Shirt sitzt Finn da, klopft eine Zigarette verkehrt aufs silberne Etui und zündet sie an.
Er setzt sich schräg, schickt einen Fuß zu mir hin und streicht mit seiner lebenden Socke am Knöchel meines eigenen gereckten Beins entlang, so weit er reicht, ohne die Ferse vom Boden zu heben; das reibt frech an dem kleinen Stück Haut zwischen meinem Turnschuh und dem Overall. Ich mag die Socken, es sind die gleichen, die der Vater hat, beide kauften sie am Jahrmarkt. Und ich mag die Geste: ein Deut in Freundschaft plus.
Finn hat die schönsten Füße. Im Sommer packt mich immer Lust, über sie herzufallen, wenn er mit den Nackten den Hof quert, bin fasziniert von der trockenen Bräune, den hervortretenden Adern, weichhäutigen Sohlen und überhaupt appetitlichsten untersten Extremitäten. Man könnte darauf essen. Da kannte ich mal einen, der hatte im Freibad ungepflegte Füße: Wir sahen uns nie wieder.
»Ich begriff plötzlich als Chance, mich so früh im Leben mit dessen Ende zu befassen«, holt Finn mich retour und bleibt mir auch bei Fuß nah. »Ließ mich darauf ein, zu akzeptieren: Was ist, hat Vorrang vor dem, was sein könnte; ein unerwarteter Zwischenfall ist nicht nur Teil der Reise, sondern immer die Reise selbst. Danach saß ich anders bei Mutter. Schenkte ihr die Zeit, nahm darin alles, wie es sich ergab, und beschenkte damit mich. Erhoffte kein spezielles Kommunizieren mehr, kein besonderes Zuwenden, kein Klären, nichts konnte mehr schiefgehn. Ich begegnete allem, wie es mich suchte.«
Der Hund kratzt sich leidenschaftlich, erhebt sich und zerbeutelt die Stimmung. Diskret zieht Finn den Fuß zurück.

(S. 89)

© 2022, Edition Roesner, Maria Enzersdorf

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