Leseprobe:
Woher Joni die Sicherheit nahm, dass dieses Jahr genauso verlaufen würde wie die Jahre zuvor, wusste sie nicht. Es begann unauffällig, spannend in der Arbeit, angenehm im Umfeld. Aber als es zur Hälfte vorüber war, führte eins zum anderen, winzige Irritationen, alles geriet in Bewegung, und Jonis viel geschätzte Ordnung erwies sich als fehleranfällig.
Es fing mit einem Verstummen der Kinder an. Obwohl sie phasenweises Schweigen gewohnt war, irritierte es sie. Nichts war passiert, zumindest war ihr nichts erzählt worden. Das letzte Wiedersehen hatte zu Ostern stattgefunden, ohne Zwischentöne, unterschwellige Angriffe oder Enttäuschungen. Sie war extra nach Wien geflogen, hatte alle Familienregeln befolgt, ihrer Meinung nach besonders gelungene Stunden mit allen verbracht, Pläne mit beiden Kindern für die Sommerferien geschmiedet, alles mit Georg besprochen. Wie schön es werden würde, eine Woche mit ihrer Tochter, ein Monat mit ihrem Sohn. Stefanie war glücklich über das mütterliche Angebot, weil ihr Mann Felix nur für zwei Augustwochen Urlaub bekommen hatte und Städtereisen verabscheute. Sie hatte bereits mit einer Liste begonnen, welche Lokale sie in New York unbedingt besuchen wollte, welche Galerien in Brooklyn wichtig wären, wo man die jungen, wirklich trendy Künstler finden würde. Joni hatte ihr hingerissen von so viel Begeisterung zugehört und wusste, sie würde mit lauter Namen und Orten konfrontiert werden, die ihr nur etwas bedeuteten für die Zeit, in der sie Stefanie beobachten konnte. Mutter einer erwachsenen Tochter zu sein war bereichernd, man lernte so viel.
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