Eines Tages erschien mein Bruder mit sensationsheischendem Gesichtsausdruck und verkündete, dass wir gar keine Juden seien. "Was soll das heißen", fragte mein Vater verwirrt, "warum bin ich dann emigriert?"
Mein Onkel schüttelte nur den Kopf.
Meine beide Vettern zuckten die Schultern, denn sie ahnten, worauf es hinauslief, und wussten, sie waren nicht betroffen.
Meine Schwester war erleichtert. Erst kürzlich hatte sie meinem Vater berichtet, dass ihr Freund, der Quack-Sohn, der Meinung sei, sie habe eine jüdische Nase. Sie war gar nicht dazugekommen, meinem Vater zu erklären, dass ihr Freund das als Kompliment gemeint und sie es als solches aufgefasst hatte, denn mein Vater hatte ansatzlos zu toben begonnen. Da mein Vater nie tobte, ja, seine Kinder kaum je ermahnt, geschimpft oder gestraft, sondern die Erziehung komplett den jeweiligen Müttern überlassen hatte, war das eine hochinteressante und auch ein wenig beängstigende Erfahrung.
"Was redet der für an Bleedsinn, der Ahnungslose", schrie mein Vater, außer sich vor Wut, " der Bua hat doch noch nie an lebenden Juden gesehen!"
"Doch", widersprach meine Schwester, die zwar eingeschüchtert war, aber bereit, für ihre erste Liebe den Kampf aufzunehmen, "dich!". (S. 281)
© 2005, Kiepenheuer & Witsch, Köln.