Leseprobe:
Und in einem dieser Augenblicke, als mich eine tiefe Leere quälte, begann ich plötzlich über die Zeit nachzudenken wie über etwas, das eine Kette sinnloser Ereignisse miteinander verbindet, und darüber, dass der Sinn nur in der Aufeinanderfolge dieser Ereignisse liegt und dass weder Gott noch die Liebe noch die Schönheit noch die Größe des Verstands unsere Welt bestimmen, sondern allein die Zeit, der Lauf der Zeit und das Vergehen des menschlichen Lebens in ihr.
Das menschliche Leben ist ihre Nahrung. Die Zeit verschlingt Millionen Tonnen davon, zerkaut und zermalmt sie zu einer gleichmäßigen Masse wie ein gigantischer Blauwal das mikroskopisch kleine Plankton – ein Leben verschwindet spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben.
(S. 8)
Ich war ein winziges Lebewesen, das plötzlich Sterbensangst vor dem Leben hatte. Mit einem Mal hatte ich zu viel Lebensraum und zu viel von mir selbst darin, zu viel Körper, den ich am liebsten auf die Größe einer Perle schrumpfen und in einer Muschel am Meeresgrund verstecken wollte. Mich einschließen. Das Licht ausmachen. Die unerträgliche Stille beenden.
Der Körper gewann die Oberhand über meinen Verstand. Nun verstehe ich, dass es so sein musste – ich hatte mich zu lange nicht um ihn gekümmert. Nachdem ich meinen Körper zur Verzweiflung gebracht hatte, wechselte er in den autonomen Betriebsmodus und übernahm vollständig die Kontrolle über mich. Er rettete uns beide, so gut es ihm gelang.
(214 f.)
© 2019 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln