Leseprobe:
ALS DIE KREIDE quietschte, sahen wir auf. Der Deutschlehrer schrieb drei Worte an die Tafel – Der gehörnte Siegfried – und wandte sich wieder der Klasse zu.
"Wer kann mir sagen, warum man von Siegfried sagt, dass er gehörnt ist?"
"Na ja, wahrscheinlich weil er Hörner hat", sagte die Klassensprecherin und zuckte mit den Achseln.
"Könnte man meinen", sagte der Lehrer, "ist aber falsch. Siegfried hat keine Hörner."
Er legte die Kreide zurück in die Ablage.
"Aber Siegfrieds Haut ist aus Horn", sagte er und schlenderte durch die Bankreihen. "Seine Haut ist gehörnt. Nachdem er den Drachen getötet hatte, badete er in dessen Blut. Dabei verdickte sich seine Haut und wurde zu einem undurchdringlichen Schutzpanzer."
"Bis auf die Stelle zwischen den Schulterblättern", rief der Bursche aus der letzten Reihe. "Dort, wo man sich so schlecht kratzen kann."
"TU DEINER SCHWESTER doch den Gefallen", sagte Mutter zu uns, während sie sich das Dekolleté eincremte. "Bring die alten Latschen hinauf. Sie mag den Dachboden eben nicht."
Unsere Schwester wartete, die Arme hinter ihren Rücken verschränkt, den Blick versenkt ins Muster des Teppichs. Wir lugten in den Plastiksack, den sie uns auf den Schoß gelegt hatte. Ein Paar ausgetretener Turnschuhe.
"Ich mag den Dachboden nicht", sagte unsere Schwester.
Mutter sprühte Parfüm in die Luft und schritt hindurch.
Carmina Burana. Super Trouper. Goldene Volksmusik 2. Zwischen dem Schallplattenstapel und Mutters Ergometer stand der Mäusekäfig. Unter der Dachschräge lehnten zwei alte Matratzen, auf denen sich Urinflecken abzeichneten. Wir traten an das Fenster und schauten hinab in den Garten der Nachbarin. Die gestreifte Markise, die spitzen Eiszungen auf der Terrasse, das Trapezblech, das den Swimmingpool bedeckte. Wir warfen den Plastiksack mit den Turnschuhen auf einen Lattenrost und kratzten uns in den Armbeugen. Die Nachbarin kam aus dem Haus und kurbelte an der Markise. Sie schien zu klemmen. Vor, zurück, vor, zurück.
"WAS WILLST DU denn wissen?", fragte unsere Tante und stellte eine Karaffe mit Quellwasser auf den Küchentisch. Auf dem Boden der Karaffe lagen geschliffene Steine, weiße, violette, rötliche. Obenauf schwammen Minzblätter.
"Deine Mutter war früher die Lustigste von allen", sagte unsere Tante und schenkte uns ein.
Beinahe wäre Mutter aus dem Internat geworfen worden, weil sie bei einer Weihnachtsfeier einen Kübel mit Putzwasser über das Geländer des Treppenhauses gekippt und dabei eine Aufseherin erwischt hatte. Mutter trug kurze, geblümte Röcke, besuchte heimlich Frühschoppen und Feste, träumte von Reisen nach Brasilien und San Francisco. Elf Jahre arbeitete sie als Pflegerin im Seniorenheim, hielt die Bewohner mit anstößigen Mundartreimen bei Laune und sang ihnen ABBA-Lieder vor, obwohl sie kein Englisch konnte. Als Vater ihr im Botanischen Garten den Heiratsantrag machte, übertönte seine Stimme geradeso das Brummen der Hummeln. Auf einer Familienfeier in Klaff stellte Mutter der Verwandtschaft ihren Verlobten vor. Am Abend legte sie sich in das Bett ihres alten Kinderzimmers und flüsterte Vater zu, dass sie schwanger ist. In den frühen Morgenstunden wurde sie vom Lärm der Rinder geweckt, ging in den Stall und fand Großvater am Strick.
"In diesem Moment ist der Fluch auf deine Mutter übersprungen", sagte unsere Tante. "Seither lebt der Geist unseres Vaters in ihr."
Mit einem Bambusstäbchen rührte sie in der Karaffe um. Die Minzblätter wirbelten umher.
"Und leider lebt er auch in deiner Schwester", setzte unsere Tante fort. "Erzähl deinem Vater nichts davon, hörst du? Der versteht das nicht. Aber du, du bist stark."
Sie bemühte sich zu lächeln.
"Du hast die Kraft, den Fluch aufzuhalten, euch alle zu heilen." An der Wohnzimmerwand hing eine bunte Ernährungstabelle mit fünf Spalten.
"Da steht, dass du mehr Lebensmittel essen solltest, die das Holzelement stärken", sagte sie und holte zwei Tupperdosen aus dem Kühlschrank. Ananasringe, Ribiseln.
(S. 76- 79)
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