Leseprobe:
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Ich schlief schlecht. Ich hatte meine Schwestern über unseren Bruder informiert. Jetzt wurde es Zeit, endlich Kontakt mit Johann Preinfalk aufzunehmen. Ich sah auf die Uhr. Wahrscheinlich war es zu früh, ihn anzurufen. Vielleicht lag er ja noch im Bett. Mit Ausreden dieser Art hatte ich den Anruf zwei Wochen lang vor mir hergeschoben. Ich suchte einen weiteren Vorwand, mich abzulenken. Mit einer Studentin hatte ich vor ein paar Tagen das Thema ihrer Masterarbeit Kontinuität in der Kulturbürokratie zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit besprochen. Darin sollte auch dieser Landesleiter der Reichsschrifttumskammer, der nach dem Krieg eine untadelige Karriere im Landesdienst hingelegt hatte, ein eigenes Kapitel bekommen. Ich hatte der Studentin versprochen, ihr ein Handbuch zu besorgen, in dem ich Angaben zur Person dieses Kulturmannes vermutete. Gleich nach dem Frühstück ging ich daher hinüber in die Landesbibliothek. Ich füllte die Bestellung aus und begab mich erneut in den Kellerraum für die Großformate, wo noch immer mehrere Jahresbände Zeitungen ungesichtet für mich bereitlagen.
Ich kippte wieder in die frühen sechziger Jahre, das Jahrzehnt, in dem ich geboren worden war. Wurde wieder zum Kind, das im Keller saß und in alten Zeitungen blätterte, seinem Ursprung auf der Spur. Geschichte und Geschichten fernab der großen Tagespolitik ergaben ein Panoptikum der Provinz. Oft tragisch, manchmal grotesk. Ich suchte die Geschichten aus dem Dorf meiner Kindheit, die sehr wahrscheinlich alle von meinem Vater verfasst worden waren.
Die Wochenzeitung als Chronik von Todesfällen und Tragödien, an die ich mich nach Jahrzehnten wieder erinnerte: Der Pfarrer unseres Dorfes stürzte beim festlichen Ritt vom Pferd und wurde nur zwei Monate später bei der Silvesterpredigt vom Schlag getroffen. Auf dem Traunsee kamen bei einem schrecklichen Bootsunfall drei Menschen ums Leben. Ein Kind verstarb an einer Knollenblätterpilzvergiftung, der Großvater, der das Mahl bereitet hatte, überlebte. Einen Tag vor seiner Hochzeit verunglückte ein junger Raser tödlich und riss auch einen Beifahrer mit in den Tod. Wenige Tage später erschoss sich die Braut mit einer Pistole des Verunglückten. Überhaupt die Toten: falls mein Vater diese Zeitungstexte verfasst hatte, die Todesfälle unserer Familie hatte er sorgfältig aufgezählt und über die Fakten hinaus kleine Berichte geschrieben. Die Todesursache für Max' plötzlichen Kindstod etwa wurde mit der tröstlich anmutenden Diagnose angeborener stummer Herzfehler angegeben.
Nach drei Stunden Blätterns kletterte ich wieder nach oben. Draußen im Park schien die Sonne, die Bänke waren zur Mittagszeit gut besetzt, im Schatten eines Baums saß ein Paar und fütterte sich gegenseitig. Mein Ausflug in die Kindheit war beendet. Eine Bank war noch frei. Ich setzte mich. Der Entschluss kam spontan. Ich holte den Zettel mit der Telefonnummer aus meiner Geldbörse und griff nach dem Handy.
Es läutete dreimal, dann hob jemand ab. Preinfalk, sagte eine Stimme.
Ich nannte meinen Namen. Am anderen Ende der Leitung war es so laut, dass Preinfalk mich nicht verstand und ich ihn auch kaum. Augenblick, ich gehe schnell nach draußen, sagte er, ich bin gerade beim Essen.
Ich kann auch später noch einmal anrufen, sagte ich. Da hörte ich auch schon, dass der Lärm im Hintergrund verebbte.
Worum geht es denn, fragte er.
Leirich, sagte ich. Gregor Leirich. Plötzlich merkte ich, dass meine Stimme zitterte.
Wer, fragte er.
Leirich, sagte ich. Vor Kurzem habe ich eine Frau getroffen, die mir von Ihnen erzählt hat. Ich habe einen Vortrag gehalten, draußen in D. Dort, wo früher die Hochhäuser standen. Wenn es wahr ist, was sie mir gesagt hat, dann haben wir denselben Vater. Sie wären also mein Bruder. Unser Bruder, sagte ich. Ich habe noch zwei Schwestern.
Das weiß ich, sagte Johann Preinfalk. Er schwieg einige Sekunden. Das ist aber eine Überraschung, sagte er dann.
Sie haben das gewusst, fragte ich. Jetzt war ich überrascht.
Ja. Ich habe es immer gewusst. Das ist eine lange Geschichte.
Wir haben keine Ahnung von Ihnen gehabt, sagte ich. Ich möchte Sie gerne kennenlernen, fügte ich hinzu. Er lachte kurz auf.
Wir verabredeten uns für einen Tag in der kommenden Woche in einem Lokal an der Bundesstraße in der Nähe seiner Wohnung.
Wieder lachte er kurz auf. Danke für deinen Anruf, sagte Johann. Dann legte er auf.
(S. 216-218)
© 2021 Otto Müller Verlag, Salzburg