Leseprobe:
Im Haus seines Nachbarn schlüpfte für Albert Theodor Brugger
zum ersten Mal ein Mädchen aus den Kleidern. Sie knöpfte die
Bluse auf, zog sie über die Schultern zurück und hängte sie acht-
los über die Stuhllehne, sie öffnete den Knopf des Bundes und
stieg aus dem schweren Rock. Als sie so im Unterhemd vor ihm
stand, schien sie über sich selbst zu erschrecken und kroch
schnell unter die Bettdecke. Hastig zog er Schuhe und Hose
aus – er hatte Angst, sie würde ihre Entschlossenheit bereuen
und einen Rückzieher machen – und folgte ihr. Ihr Name war
Magdalene, Albert sagte Lene zu ihr, sie war die Schwägerin des
Nachbarn, dessen Schlafzimmer sich genau gegenüber befand.
Einige Wochen zuvor hatte dieser, ein ernster Mann Anfang drei-
ßig, seine Hochzeit gefeiert. Da er von einem kleinen Bauern-
hof und seiner Arbeit als Tagelöhner leben musste, war es ein be-
scheidenes Fest mit wenigen Gästen gewesen, aber nichtsdesto-
trotz ein ausgelassenes. Die Braut hatte den Ruf, sich nicht zu
schade für die Arbeit zu sein, brachte sogar eine kleine Aussteuer
in die Ehe mit und war obendrein nicht unansehnlich. Vor allem
aber war ersichtlich, dass die Heirat kein pragmatischer Bund
zweier Übriggebliebener war, sondern aus Liebe geschah. Die
Leute freuten sich für ihn, sie gönnten ihm sein Glück – in dem
kleinen Ort durchaus keine Selbstverständlichkeit. Der Mann
hatte einiges durchgemacht, nicht nur dass sein Vater ein Tu-
nichtgut gewesen war und den Hof völlig heruntergewirtschaftet
hatte, er hatte seine Familie regelmäßig verprügelt. Da er nicht
mehr lebte, übernahm Alberts Vater Anton die Rolle des Bräu-
tigamvaters.
Für den sechzehnjährigen Albert war es sogar ein rauschendes
Fest, der Grund dafür war Magdalene, die jüngste Schwester der
Braut, ein Jahr älter als er. Er hatte sie in den Monaten vor der
Hochzeit vier-, fünfmal in der Kirche gesehen – jedes Mal hatte
sie ihm einen neugierigen, beinahe frechen Blick zugeworfen –,
wenn sie mit ihrer Schwester zu Besuch im Ort gewesen war, da-
mit die beiden Verlobten Zeit miteinander verbringen konnten,
denn die junge Braut stammte aus einem entfernten Nachbar-
dorf. Lene hatte krauses dunkelblondes Haar, Sommersprossen,
eine kleine Nase, große blaue Augen, volle Lippen.
Auf dem Weg von der Kirche zum Gasthof Zur Linde ging sie
plötzlich neben ihm, sie lächelte ihn an und begann mit ihm zu
plaudern, ihre Wangen waren von der Kälte mit einer leichten
Röte überzogen, der frischgefallene Schnee knirschte unter ihren
energischen Schritten. Als die Hochzeitsgesellschaft schweins-
bratenverzehrend im kleinen Saal saß, warfen Lene und Albert
einander immer wieder Blicke zu, was von seinen Schwestern na-
türlich nicht unbemerkt blieb, sie hänselten ihn. Albert fühlte sich
übermütig, trank zu viel Bier. Sein Vater schüttelte missbilligend
den Kopf, er – der Sparsame – dachte weniger an den Alkohol, der
seinem Sohn vielleicht abträglich sein konnte, sondern an die
hohe Rechnung, die der Bräutigam bezahlen musste. Der Mu-
siker packte sein Akkordeon aus, Albert tanzte mit seiner Tante –
er wirbelte sie so schwungvoll herum, dass sie von einigen sogar
Applaus bekamen – und fand endlich den Mut, zuerst die Braut
und dann Lene aufzufordern.
»Ich freue mich, einen netten Buben wie dich in der Nachbar-
schaft zu haben«, sagte die Braut, »deine Tante Rosa erzählt nur
Gutes von dir.« Es kränkte ihn, dass sie ihn als Buben bezeich-
nete.
»Du bist mit drei älteren Schwestern aufgewachsen, das be-
deutet, du weißt alles über Frauen«, sagte Lene und lachte ihn
herausfordernd an.
(S. 9 )
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