Leseprobe:
Später passierte mir eine noch viel kuriosere Fehlleistung. 2017 oder so las ich ein ungeheuer spannendes Buch über die Ketzerprozesse von Montaillou im 14. Jahrhundert. Dann vergingen ein, zwei Jahre und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder an eine bestimmte Anekdote aus dem Buch dachte. Die Geschichte erschien mir in all ihren Details sehr kraftvoll und sinnbildhaft. Also fertigte ich ein kleines Fundstück-Prosagedicht aus ihr:
AVANTGARDE
Anfang des 14. Jahrhunderts stand das gesamte südfranzösische Dorf Montaillou vor der Inquisition. In den Gerichtsprotokollen findet sich die Erwähnung einer jungen Frau, die namenlos bleibt. Sie wurde beschuldigt, den christlichen Glauben abgelegt zu haben. Man fragte sie, welcher Mann ihr diese ketzerischen Ansichten vermittelt habe. Die Frau antwortete, das habe ihr niemand beibringen müssen, sie sei ganz allein darauf gekommen, dass der christliche Gott nicht existieren könne, durch eigene Überlegungen, während der Hausarbeit.
So hatte ich die kleine Szene im Kopf. Durch eigene Überlegungen während der Hausarbeit. Ziemlich genau dieser Ssatz, vielleicht ein wenig anders formuliert. Mit Sicherheit war da jedenfalls das Wort Hausarbeit gestanden. Doch hier mein Problem: Ich schwöre, ich habe alles abgesucht, aber es gibt diese Anekdote in dem Buch nicht. Ich bin wirklich jede Seite Zeile für Zeile durchgegangen. Da ist nichts dergleichen. Ich muss die kleine Szene entweder geträumt oder mir sonst irgendwie eingebildet oder am Ende ganz wo anders gelesen und sie dann in meiner Erinnerung mit diesem Kontext vermengt haben. Was mag die ursprüngliche Szene gewesen sein? Ich weiß es nicht. Hätte ich nie nach der Originalquelle gesucht, würde ich sie heute wohl immer noch als aussagekräftige, wahrhaftige Parabel über die historischen Spielarten der Unterdrückung von Frauen betrachten. Aber jetzt? Was ist sie jetzt, wo wir ihre unklaren Entstehungsbedingungen kennen?
(S. 17–18)
© 2022, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien