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Zwei neue Romane von Sophie Reyer


Sophie Reyer          Czernin-Verlag          edition keiper


Ein Schrei. Meiner.
Roman.         

Wien: Czernin-Verlag, 2022.
232 Seiten, geb.; EUR 25,-.
ISBN: 978-3-7076-0774-1.


Authentizität aus zweiter Hand

Es ist Sophie Reyers 95. Buchveröffentlichung. Und schon der ungewöhnliche Titel, das nachgestellte Meiner, verrät das Thema. Es geht um Identitäten, um Bewusstseinsspaltung, um Psychosen. Es geht um Linda Maier und um Andrea Romerer. Beide lässt Sophie Reyer in abwechselnder Kapitelfolge zu Wort kommen. Beide erzählen in der Ich-Form und im Präsens. Die eine, Linda, erzählt von ihrer Geburt weg, vom Erwachsenwerden, von einer gewalttätigen Mutter, von der ersten Liebe zur Babysitterin und später zu einem Chormädchen. Linda Meier wird Psychiaterin. Andrea erzählt von ihrem jetzigen Leben. Sie ist 34, als Architektin erfolgreich und ist mit Sascha beisammen, den sie bald heiraten will. Soweit die Fassade. Beide Frauen aber haben psychische Probleme. Massive Probleme. Linda hängt ihre Vergangenheit nach, sie sucht ihren Platz im Leben, sucht nach Sinn: "Gott macht uns, und er zersetzt uns wieder, … wir gehören nirgendwohin. Wir sind Türen, die sich öffnen und schließen." Doch auch in Andreas Leben läuft und lief einiges schief. Andrea wurde in jungen Jahren von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Ihr jetziger Zustand ist besorgniserregend: "ch falle in letzter Zeit immer wieder um … und dann bin ich irgendwie … doppelt, … es ist dann so, als würde ich mich teilen und mich gleichzeitig von außen sehen." Andrea begibt sich in psychiatrische Behandlung. Andrea wird Lindas Patientin. Die Diagnose: Dissoziation.

So weit, so brutal. Doch es kommt noch heftiger. Andrea lässt sich in Lindas Anstalt einweisen und entdeckt eine Art Labor. Erst vermutet sie Organhandel, dann aber muss sie erkennen: hier werden Roboter gezüchtet. Andrea fühlt sich dann auch bald als Maschine, als Studienobjekt von Linda, ihrer Therapeutin: "Ich bin eine Maschine, nichts anderes." Aber schon im nächsten Satz heißt es: "Mein Herz tut mir weh." Also was nun? Sophie Reyer treibt ein Spiel mit uns. Ein böses Spiel. Wo beginnt das Menschsein? Wo die Freiheit des Menschen? Ist Andrea nur eine Erfindung von Linda? Oder ist es umgekehrt. Ich habe ja einen Verdacht. Führt uns Sophie Reyer, die Autorin, hier nur das Erfinden von zwei Kunstfiguren vor? Romanfiguren, die sich vielleicht gar selbständig von ihrer Autorin machen bzw. machen wollten. Dann wäre Linda die Autorin. Und am Ende stünde zwangsläufig und logisch der Suizid von Andrea. Wie heißt es da gegen Ende, eine Arztkollegin nimmt Linda mit ins Theater: Der Vorhang öffnet sich … und jetzt weiß ich es sicher, ich möchte, ich muss: schreiben." Anschreiben gegen die "Dichtigkeit" der Welt.


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Gartentage
Roman.
Graz: edition keiper, 2022.
208 Seiten, geb.; EUR 22,-.
ISBN: 978-3-903322-52-3.


Leben. Einfach leben. Hier und Jetzt

Schreiben als Suche. Als Bewegung. Als Suchbewegung. Und Dichtung als Zuspitzung gegen die "Dichtigkeit" der Welt, um sich dicht an die wahren Geschehnisse, nicht zu verwechseln mit der Wahrheit, anzunähern. Dichtung als Möglichkeitsform. Pfeile gegen die Eintönigkeit. Und so viel vorweg: Sophie Reyer hat mit ihren Gartentagen wieder einmal ins Schwarze getroffen.

In Gartentage kommt Sophie Reyer ohne doppelten Boden aus. Die Geschichte funktioniert vom ersten bis zum letzten Satz linear. Und im Gegensatz zum "Schrei" sind es dieses Mal nicht zwei, sondern drei Protagonist:innen, denen Sophie Reyer abwechselnd ihr Erzählen zuordnet. Drei Figuren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Jonathan ist 17. Er ist im Drogenrausch mit dem Skateboard auf der Autobahn verunfallt, hat aber mit Glück überlebt. Als Strafe schickt ihn sein Vater zur Großmutter aufs Land, in ein kleines Kaff im letzten Winkel des Burgenlandes. Die Oma heißt Elvira Kößler, ist dement, verwechselt Jonathan ständig mit seinem Vater Dieter, also ihrem Sohn, und wird von einer Pflegerin betreut. Diese heißt Marika, ist Ungarin, verwitwet, und spricht nur wenig Deutsch. Die Großmutter nennt Marika liebevoll Darling. Soweit das Setting. Diese "Dreiecksbeziehung" läuft besser als zunächst angenommen. Gemeinsam wird getanzt, Musik gehört, Kaffee getrunken, an den See spaziert, Omas 90.Geburtstag gefeiert. Man wird zur Schicksalsgemeinschaft. Zwischen dem 17-jährigen Jonathan und der doppelt so alten Pflegerin bahnen sich sogar zarte Bande an. Es knistert gehörig. Aber es braucht 164 Seiten, bis sie auch als Mann und Frau zueinanderfinden. Marika muss dann allerdings wieder nach Ungarn zurück. Dennoch haben die drei etwas gelernt: "Und irgendwas scheint immer noch möglich zu sein zwischen Menschen … Irgendwas, das an Geborgenheit erinnert. Und fast auch an Engel. Ist das nicht genug?" Sophie Reyer ist mit Gartentage etwas ganz Besonderes gelungen: eine menschliche Utopie. Und zugleich ein wunderbares Stück Literatur, fernab von Kitsch und falscher Rührseligkeit.
 

beide Rezensionen von: Friedrich Hahn, 06. 09. 2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

 

 

 

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