Veronika ist zum zweiten Mal hierher, in dieses Land und in dieselbe Hotelanlage gekommen. Anlässlich ihres zweiten Geburtstages. Weil sie die Leukämie überstanden hat. Ein Jahr bevor sie den Befund erhalten hatte, war sie gemeinsam mit Susanne und deren Mann hier gewesen. Veronika und ihr eigener Ehemann waren bereits damals so sehr zerstritten, dass sie sich alleine den beiden anschloss, zunächst war es ihr unangenehm, weil sie sich ihrer Flucht und Not bewusst war und sich wie ein Anhängsel fühlte, mit der Zeit wurde ein harmonischer Urlaub zu dritt daraus. Kurz danach kamen die Scheidungspapiere, vier Tage vor dem Krebsbefund, ins Haus geflattert. Zwei einschneidende Ereignisse, geradzu erschreckend zeitgleich zum Ausbruch gelangt, Schwarz auf Weiß nachzulesen – beides bedeutete sowohl Anfang als auch Ende – und dramatisch miteinander verknüpft, als hätten sich die Götter, falls es sie gibt, einen besonderen Scherz mit Veronika erlaubt, nun ja, letztendlich blieben ihr die Tatsachen, sehr reale, mit denen sie zurechtkommen musste, beides hat sie gemeistert. Sie hat gelernt, Konzentration und Anspannung zu bündeln, in Momenten und Situationen, in denen sie vonnöten sind und gebraucht werden, um sich danach sofort in die Entspannung zu begeben, Geist und Körper wieder in eine Ruhephase zu bringen. Das ist ihr Geheimnis. Später, am heutigen Abend wird sie sich einem der Tischnachbarn gegenüber outen, was ihre Krankheit betrifft, und zudem bekennen und preisgeben, dass sie im Alter von fünf Jahren von ihrem Onkel missbraucht wurde. Ihre Mama hatte sie jedes zweite Wochenende zur Tante gebracht und ihr ein hübsches Kleidchen angezogen. Obwohl sie sonst nur Hosen trug.
Ihre Mama hatte immer Angst. Ihre Mama weinte zu viel.
Das ist das Besondere, hat der Tauchlehrer Ulli noch gestern beim nachmittäglichen Zusammensitzen und Verabschieden gesagt, dass man auf Leute trifft, denen man im Alltag niemals begegnen würde, und dass es allen mehr oder weniger egal sein kann, was sie wem erzählen, nach Beendigung der Reise gehen sie auseinander und getrennte Wege, im Normalfall trifft man einander nicht wieder. Oft quillt oder strömt es aus manchen nur so hervor, als würde ein Damm brechen. Ob alles wahr ist, was kolportiert wird, ist mehr oder weniger irrelevant, die meisten Gäste mögen diese Art von Unterhaltung und haben Interesse und Spaß daran. Es gibt Angeber, Aufschneider und Märchenerzähler, furchtbare Einzelschicksale und Tragödien, die dir anvertraut oder aufgedrängt werden, es liegt an dir, sie zu bewerten.
Ist ähnlich wie im Internet Bekanntschaften zu machen.
(S. 64-65)
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