Leseprobe:
"[...] Tatsächlich handelte der ausführende Künstler im posthumen Auftrag des Kardinals. Er nahm eine Protraitskizze zu Hilfe, die ein anderer, lange vor ihm, von dem Kinde angefertigt hatte, und kombinierte sie mit allfällig bekannten Posen, um sie schließlich nach Kunst und Können zu dem auszuführen, was Sie hier vor sich sehen […]
Wie Ihnen aufgefallen sein wird, hat der Künstler den Knaben in verschiedenen Kostümen dargestellt. Sie sehen ihn als ausgebildeten Antiquaren, als Schweizer Gardisten, als Cupido, als Tänzer, als Orientalen mit Perlgehängen und sogar als Dame von Welt. All diese Verkleidungen scheinen von seiner Leidenschaft für das Experiment und das Unbekannte zu zeugen, vielleicht illustrieren sie in gewisser Weise auch die verschiedenen Facetten seiner Persönlichkeit. Aber ist das wirklich alles? Sollte uns der Kardinal nach seinem Tod ein derartig ungewöhnliches Kunstwerk hinterlassen, wenn dessen Botschaft ausschließlich von solcher Banalität wäre?
Ich habe mir diese Fragen gestellt. Immer wieder blicke ich in die Augen dieses alten Kindes und versuche zu ergründen, was ihr Geheimnis ist. In all den Jahren, die ich hierherkomme, habe ich keine Antwort gefunden. Und doch, ich bin sicher – der Kardinal war ein kluger Mann –, gewiß hat er uns für sein Rätsel auch eine Lösung hinterlassen. Was meinen Sie?"
Der Besucher schwieg. Er hatte der langen Rede des Alten gelauscht, ohne ihn anzusehen. Zu sehr war sein Blick gefangen genommen von der seltsamen Ausstrahlung der Portraits. Und nun, da ihm der andere unversehens eine Frage gestellt hatte, wußte er nichts zu sagen. Vielleicht gab es ein Rätsel, ja. Vielleicht aber auch war die ganze Geschichte erfunden. Dann gab es einfach eine Serie merkwürdiger Portraits, deren Faszination sich leicht auf die eine oder andere Art erklären ließ.
(aus: Unverhoffte Begegnung mit einem Kunstwerk, S. 113/114).
© 2018, Sisyphus Verlag, Klagenfurt