Hugo von Hofmannsthals Prosaschriften
Fast die ganze Lyrik Hugo von Hofmannsthals (neben den Gedichten auch seine kurzen Versdramen umfassend) entstammt dem einen Jugenddzennium 1890-99. Die lyrische Periode wird einerseits von der epischen überdauert, andererseits von der dramatischen abgelöst. Erstere setzt 1894 mit dem Märchen der 672. Nacht ein und führt zu zwei Höhepunkten, nämlich zu dem um 1912 entstandenen Roman-Fragment Andreas und zu der als Prosanachzügler 1919 zusammen mit dem gleichnamigen Operntext veröffentlichten großen Symbol-Erzählung Die Frau ohne Schatten. Dagegen währt die dramatische Periode, als deren Beginn der erste Akt des Bergwerk zu Falun (erschienen 1900) betrachtet werden darf, ununterbrochen bis zu des Dichters Tod 1929. Unabhängig aber von diesem dichterischen Schaffen läuft eine niemals erlahmende, vielmehr ständig an Dimensionalität zunehmende essayistische Produktion; sie begleitet Hofmannsthal au seinem ganzen, mit dem siebzehnten Jahr anhebenden schriftstellerischen Weg, war seine stete Selbstbesinnung und Selbsterklärung, sein philosophisches Tagebuch im Ereignis des Daseins.
Die Abkehr von der Lyrik und "Der Brief des Lord Chandos"
Daß ein geborener Dramatiker seine erzählerische Produktion aufgibt oder sie auf die situationshafte und daher dem Drama angenäherte Kurzgeschichte beschränkt, kann an einer ganzen Reihe von Beispielen - Kleist, Hebbel, Grillparzer, aber auch Shaw oder Oscar Wilde - dargetan werden. Und ebenso ist es verständlich, daß beim geborenen Erzähler - Zola, Gorki, Hamsun, Thomas Mann, Joyce - das Umgekehrte stattfindet. Daß aber ein geborener Lyriker sich entschließt, zugunsten der Prosa-Epik und zugunsten der Bühne völlig dem Gedicht zu entsagen, steht schier beispiellos da. Und doch trifft es bei Hofmannsthal zu. Er entäußerte sich der Lyrik, als er die Fünfundzwanzig knapp überschritten hatte, also zu einer Zeit, in der gemeiniglich die poetische Stärke erst zur vollen Entfaltung gelangt.
"Frühreife bedeutet frühen Tod", ist eine sehr oberflächliche Verallgemeinerung, die nichts erklärt, auch wenn zugegeben werden muß, daß Hofmannsthal niemals, nicht einmal in den ersten Gedichten, wirkliche Jugendlyrik geschrieben hat. Was sonst jungen Menschen allein wichtig ist, die subjektive Reaktion ihres Ichs, ist dem jungen Hofmannsthal kaum beachtlich; von den frühesten Gedichten angefangen, ohne Rücksicht auf die in ihnen ohnehin seltene Ich-Form, wird das Ich versteckt, wird die lyrische Aussage dem Objekt zugeschoben, wird getrachtet, sie dem Gesehenen, dem Gefühlten, dem Erlebten abzugewinnen, dagegen das Sehen, das Fühlen, das Erleben, kurzum jegliches Subjektivitäts-Element auszuschalten, denn unter Überspringung der spezifisch jugendlichen Bekenntnis-Lyrik wird hier sofort Erkenntnis-Lyrik getrieben, wie sie vom normalen Dichter höchstens nach langem Reifen und Wachsen sozusagen als Endstadium erreicht wird. Freilich, auch ein Endstadium kann sich noch endlos weiterentwickeln; es ist kein Ziel, das die Hofmannsthalsche Dichtung gleich beim ersten Sprung erreicht hat, und nicht der angeblich zu rasche Sprung und noch weniger eine Sprungermattung, sondern andere und eben wesentlich tieferliegende Gründe haben die Weiterentwicklung gehemmt: es läßt sich behaupten, daß Hemmung und Antrieb in Hofmannsthals Entwicklung seltsam identisch sind und daß beide im Phänomen seiner höchst auffallenden Selbst-Verschweigung, seiner Ich-Verschwiegenheit gesehen werden müssen. (S. 196f)