Ein Augenblick der Lust
Leo erinnerte sich seiner Mutter nur als einer äußerst empfindlichen Dame, auf die man in jeder Weise Rücksicht zu nehmen hatte. Seit ihrer Scheidung von seinem Vater Dr. Heymerle lebte sie in Rom. Von dort aus sandte sie Leo zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag kleine lila Kärtchen, die sie in ebensolche Kuverts steckte. Außer den jeweils indizierten Glückwünschen stand auf diesen Kärtchen mit geringfügigen Variationen stets das Folgende:
"Mein liebster Sohn! Ich hoffe, daß Du große Fortschritte machst und Deinem geplagten Vater keine Sorgen bereitest. Mir geht es hier im sonnigen Italien ausgezeichnet, die Leute sind alle so rücksichtsvoll. Mein einziger Kummer ist, daß ich Dich, mein liebster Sohn, nicht hier bei mir habe. Zu gerne würde ich Dir einmal das ewige Rom zeigen."
Sooft Leo diesen nichtssagenden Text zu Gesicht bekam, ärgerte er sich darüber. Manchmal sammelte er die Kärtchen, die in seiner Tischlade durcheinandergeworfen herumlagen, und betrachtete sie konzentriert. Auf den Karten, die über zwei Jahre alt waren, sah man noch die Rundstempel der Zensurstelle. Über diese Stempel ärgerte sich Leo am meisten. Der Gedanke, daß irgendein Zensurfräulein die abgeschmackten Zeilen seiner Mutter las und daraus die Berechtigung ableitete, auf ihn, Leo, als dummes Muttersöhnchen herabzusehen, verursachte ihm starkes Unbehagen. In einem Augenblick allgemeiner Unlust schnitt er den Rundstempel säuberlich aus, holte die Reproduktion eines Halbakts, der ein kauerndes Proletariermädchen mit abwesendem Blick und stämmigen Schenkeln darstellte, aus der Egon-Schiele-Mappe seines Vaters und klebte den Zensurstempel mit Gummi arabicum auf die delikateste Stelle der Zeichnung. Gern hätte er das also zensurierte Blatt über sein Bett gehängt, aber das ging nicht wegen des Dienstmädchens, und auch seinen Mitschülern konnte er es nicht zeigen, da sie als rohe und phantasielose Burschen die Feinheit dieser Retouche nicht begriffen und sicherlich lieber das unverhüllte Original gesehen hätten.
(S. 28f)
©2001, Picus Verlag, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.