Kommentierte ausgewählte essayistische Texte in der Form des Erstdrucks / der Handschrift
Joseph Roth. Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Hrsg.: Helmut Peschina, Rainer-Joachim Siegel. Göttingen: Wallstein, 2014. 400 S., geb., E 29,90 (D). ISBN 978-3-8353-1382-8.
Eine Sammlung zu einem sehr interessanten Aspekt in Roths Werk: alle erhaltenen Texte, die auf das Medium Film Bezug nehmen, und zwar: Filmkritiken und Essays in Zeitungen und Zeitschriften, ein Abschnitt aus dem Komplex „Antichrist“, vorab in einer Zeitung publiziert, und die drei Vorschläge für Filmscripts, die Roth gemeinsam mit dem Film-Fachmann Leo Mittler verfaßt hat.
Roth Artikel sind genau nach den benannten Erstdrucken ediert (Editorische Notiz S. 265f) und dankenswert ausführlich kommentiert (S. 270-351). Immerhin befinden sich unter den 99 Texten 12, die in bisherigen Ausgaben nicht aufgeschienen sind, also Neuheiten für alle jene, die sie nicht etwa aus den Zeitungen kennen, die sie zuerst publiziert haben.
Ein ausführliches Nachwort (S. 352-389) berichtet über die Breitenwirkung des Films im Wien und Berlin der Nachkriegszeit, über Roths spezifische Mahnungen, die Beliebtheit und Eindrücklichkeit des Mediums nicht nur für Reißerisch-Sensationelles, sondern auch für Bildung und Versöhnlichkeit zu nützen. Deutlich wird an diesen Texten, wie Roth ein Wegbereiter zu dem war, was Bernard von Brentano und Siegfried Kracauer in der FZ in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden: scharfe, kritische und sehr aufmerksame Beobachter der geschäftlich und ideologisch enorm ertragreichen Szene, in der sehr rasch die Nationalsozialisten und ihre Freunde Einfluß zu nehmen begannen.
Auf die Präsenz des Kinos in Roths erzählendem Werk wird mit einigen Zitaten kurz verwiesen, ebenso auf den Essay „Der Antichrist“, in dem Roth die negativen Einflüsse des Kinos auf die Gesellschaft hervorkehrt.
Konträr dazu versuchte Roth in seinen letzten Jahren, seine aus den Berliner Jahren stammenden Kontakte zum Film zu nutzen, um damit Einkommen oder Hilfe zum Leben zu erhalten. Die drei erhaltenen Treatments werden hier zum ersten Mal komplett und den Originalen entsprechend publiziert und kommentiert. Sie zeigen, wie Roth auch im Film die Vergangenheit und die Gegenwart auf wehmütige Weise behandelte, aber auch Anklagen gegen den Terror der Nationalsozialisten unterzubringen wußte.
Insgesamt ein erfreulicher weiterer Band in der Reihe thematischer Schwerpunkte, die mit den beiden von Helmuth Nürnberger herausgegebenen begonnen hat.
Joseph Roth. Heimweh nach Prag. Feuilletons – Glossen – Reportagen für das „Prager Tagblatt“. Hrsg.: Helmuth Nürnberger. 640 Seiten. ISBN 978-3-8353-1168-8. Göttingen: Wallstein Verlag, Oktober 2012.
Das „Prager Tagblatt“ war eine jener Zeitungen, die ganz früh Texte von Roth abdruckten: bereits 1917; es hielt dem Autor über 20 Jahre lang die Treue, auch wenn es die meisten Texte in der ersten Hälfte der 1920er Jahre abdruckte: etliche hier zum ersten Mal veröffentlichte Texte, zahlreiche Nachdrucke, gelegentlich signifikant verändert – insgesamt etwa 150 Texte Roths. Damit war das PT das viertwichtigste Medium für den Autor. ähnlich viel brachte Roth innerhalb von 12 Monaten im Wiener „Neuen Tag“ unter. Der „Berliner Börsen-Courier“ brachte in zweieindrittel Jahren etwa 230 Texte Roths; die „Frankfurter Zeitung“, das wichtigste Blatt Roths, druckte in rund zehn Jahren etwa 340 Texte.
Von Roths Beziehungen zu Prag, zu seinen Journalisten und zum PT im Besonderen ist wenig bekannt. Im Nachwort skizziert Nürnberger ausführlich die Zeitungslandschaft des Landes. Das PT war die größte deutschsprachige Zeitung (der Monarchie außerhalb Wiens und) ab 1918 der Tschechoslowakei – liberal, mit einem starken Kulturteil, klug vermittelnd zwischen den gemäßigten Teilen der deutschsprachigen und tschechischen Bevölkerung. Allerdings ist nicht mehr nachvollziehbar, wie Roth zur Zeitung kam, wer seine Kontaktleute waren und wer die Initiativen setzte; entsprechende Korrespondenz ist leider nicht erhalten. Dennoch hebt der Herausgeber im Nachwort drei Personen hervor, die für Roth und für das Blatt, aber auch für die Zeit von Bedeutung waren: die leitenden Redakteure Karl Tschuppik, Max Brod und Rudolf Thomas.
Die Texte dieser Sammlung mehren die Zahl von Arbeiten Roths, die genau kontrolliert in der ursprünglich publizierten Form und ausführlich kommentiert zu lesen sind; als interessante Draufgabe ist sogar auf Veränderungen verwiesen, die, im Fall von zuvor bereits in anderen Zeitungen Publiziertem, für den Abdruck im „Prager Tagblatt“ (höchstwahrscheinlich von dessen Redaktion) gemacht wurden. Korrekturen gibt es auch gegenüber der traditionellen Roth-Ausgabe. In JR Werke Band 2, S. 308 beginnt der titelgebende Text mit doppelter Sehnsucht, statt wie hier S. 274 richtig:
„Wenn ich keine Sehnsucht nach Paris hätte, so hätte ich Heimweh nach Prag. […]“
Joseph Roth. "Ich zeichne das Gesicht der Zeit". Essays, Reportagen, Feuilletons. Hrsg., Kommentar: Helmuth Nürnberger. 544 S.; geb.; Göttingen: Wallstein-Verlag, 2010. EUR 39.90,
ISBN: 78-3-8353-0585-4, nun auch in: Zürich: Diogenes, 2013 (detebe 24195) EUR 14.90. ISBN: 978-3-257-24195-2.
Die philologische Bedeutung dieser Auswahl-Ausgabe beruht darauf, daß hier – im Gegensatz zu früheren Ausgaben – jeweils auf die Textgestalt des Erstdrucks oder der Handschrift zurückgegriffen wurde. So ergeben sich bei manchen Texten (wie etwa »Juden auf Wanderschaft«) bemerkenswerte Unterschiede zu den landläufig bekannten Texten.
Gleiche Sorgfalt wurde auch für Kommentare und Nachwort verwendet.
Inhalt:
Feuilletons, Glossen, Reportagen 1916-1925 (S. 7-95); „Die weißen Städte“ (S. 97-135); „Juden auf Wanderschaft“ (S. 137-223); Feuilletons, Reportagen, Rezensionen 1925-1932 (S. 225-358); Texte aus den Jahren des Exils 1933-1939 (S. 359-401); Editorische Notiz (S. 405); Abkürzungen (S. 406-409); Anmerkungen (S. 410-498); Nachwort (499-539).
Eine freundliche und kluge Rezension und Hommage an Roth von Karl-Markus Gauß in „Die Presse“. Wien vom 2010-10-03:
http://diepresse.com/home/spectrum/literatur/599082/index.do?_vl_backlink=/home/spectrum/literatur/index.do
Andere Sammlungen ausgewählter Essays von Roth
Joseph Roth. Trübsal einer Straßenbahn. Stadtfeuilletons. Hrsg., Nachwort: Wiebke Porombka. (Reihe Österreichs Eigensinn). Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2012. 271 Seiten, geb., EUR (A) 22.-.
ISBN 978-3-99027-003-5.
Sammlung von 80 Texte Roths, chronologisch gereiht, aus den Jahren 1919 bis 1929, die meisten davon vor 1925.
Das Nachwort gibt nützliche Hinweise zur Schreibposition Roths - den Blick auf das Kleine zu richten, der so das Große erschließe; garniert mit gelegentlich ungenauen biografischen Angaben.
Joseph Roth auf Reisen. Hrsg.: Petra Herczeg, Rainer Rosenberg. Klagenfurt / Celovec: Wieser Verlag, 2011. (Reihe Europa erlesen / Literaturschauplatz) ISBN 978-3-85129-872-7. 261 S., geb., EUR 12.95.
Roth war kein Tourismus-Rezensent im heutigen Sinn: Das Fahren und das Abenteuer als solche haben ihn nicht gereizt; schon hingegen die Mobilität, und damit gleicht er vielen Menschen unserer Tage, die gern oft an verschiedenen Orten sind.
Was Roth konnte, und was er für uns noch immer höchst eindrucksvoll macht, das ist: beim Schauen helfen, sich auf die Eindrücke des Neuen konzentrieren. Erst wenn man das Erleben mit Worten faßt, wird dieses dauerhaft (so wie weniger verbale Menschen mit dem Fotoapparat versuchen, die Eindrücke, das Neue, zu bewahren). In diesem Sinn bilden Roths Berichte von verschiedenen Orten eine höchst amusante Lektüre. Der Blickwinkel ist geschärft, die Ideen sind wie neu und daher bestens empfehlenswert. Roth zeigt uns das nunmehr ehemalige Galizien, den neuen Staat Polen, Deutschland, Italien, den Balkan und Albanien, Österreich (das Burgenland, als es noch unsicheres Grenzland war), Frankreichs Süden, ein wenig von Rußland; die Vorzüge des Lebens im Hotel und Reisebegleitung mit und ohne Traglasten.
Heinz Lunzer
Filmszenarios
Wolfgang Jacobsen u. Heike Klapdor (Hg.): In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood von Vicki Baum, Ralph Benatzky, Fritz Kortner, Joseph Roth sowie Heinrich und Klaus Mann u.a. Aus d. Englischen von Gesine Schröder. Aufbau, Berlin. 503 S., EUR 26.99. ISBN: 978-3-351-03527-3.
Eine Rezension dazu von Paul Michael Lützleler in „Die Welt“:
http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article112717306/Fluchtpunkt-Hollywood.html
Das Buch publiziert jene Film-Entwürfe, die, unterstützt von verschiedenen Hilfsorganisationen, in einer von Paul Kohners Agentur initiierten Aktion für Flüchtlinge aus NS-Deutschland eingereicht und offenbar (auch wenn sie nicht verwertbar waren) mit einem geringen Honorar entlohnt wurden. (Unterlagen dazu scheint es nicht zu geben, begleitende Korrespondenz nur in geringem Ausmaß.)
Roth und Leo Mittler verfaßten gemeinsam zwei Entwürfe: „Der letzte Karneval von Wien“ und „Kinder des Bösen“. Die Informationen über die Zusammenarbeit der beiden in Paris in der Rue de Tournon wohnenden Emigranten beschränken sich auf die kurzen Meldungen in der Presse bzw. einer Fachzeitschrift für emigrierte Film- und Bühnenkünstler (PEM’s Privat-Berichte). Interessant sind die oft politischen Sujets, zumeist die Gegenwart oder die jüngste Vergangenheit betreffend, welche die weitgehend nicht filmerfahrenen Autoren vorschlugen bzw. skizzierten; betrüblich ist die Verwendung von viel damals üblichem Film-Schmalz und Klischees, mit denen man glaubte einen Film attraktiv machen zu müssen.