Sie wisse wahrscheinlich, sagt er, dass der Männerakt relativ leicht zu erlernen sei und bestimmten Regeln folge, während man sich mit dem Frauenkörper ein Leben lang beschäftigen könne, ohne ihn je ganz zu beherrschen. In der Aktmalerei sei das so, aber vielleicht stimme es ebenso für alles andere.
Vorsicht Idealisierungsfalle, sagt Manja.
Sie habe das grundsätzliche Problem erfasst, sagt Anthony, Männer könnten sich nämlich nicht mit Frauen beschäftigen, ohne sie zu idealisieren. Darin liege vielleicht doch eine gewisse Wahrheit über das weibliche Geschlecht. Er lächelt, und sie lächelt zurück.
Sie muss aufpassen, denkt Manja, dass sie nicht zu viel Wein trinkt. Ihr ist angenehm leicht zumute, und sie beobachtet Anthonys Hände, die nackte Haut da, wo der Wollpullover über dem Schlüsselbein aufliegt, seine Lippen.
Er sagt etwas über erotische Signale und deren erstaunliche Kontinuität. Habe Manja bewusst darüber nachgedacht, warum sie vorhin auf die Toilette gegangen sei und ihren Lippenstift nachgezogen habe?
Sie blickt ihn überrascht an. Das sei ihr jetzt peinlich.
Es müsse ihr gar nicht peinlich sein, er fühle sich geschmeichelt.
Manja lacht, ein wenig nervös, wie ihr scheint, gegenüber seinem ruhigen Lächeln. Sie schaut zum Kellner, der hinter dem Tresen lehnt. Da streckt Anthony einen Arm über den Tisch und berührt ihre Wange. Seine warme Hand löst eine solche Wohligkeit in ihr aus, eine solche Dankbarkeit, dass einen kurzen Moment lang glaubt, sie würde zu weinen beginnen.
S. 30
© Müry Salzmann Verlag, 2014