Leseprobe:
„Was ist mit dem da?“ fragt eines der Kinder und deutet auf einen dicken Mann, der an einem Stock vorbei humpelt. „Der hat in Russland seine Zehen essen müssen, damit er nicht verhungert“, erfindet Heinrich und verschränkt die Arme vor der Brust. „Und jetzt?“ „Und jetzt ist er allen ihre Zehen neidig. Wenn er kann, dann steigt er mit dem Stock darauf und tut, als wär‘ es ein Versehen.“ Ehrfürchtig schauen alle dem Dicken hinterher. „Und die da?“ Der Bub wagt sich auch heraus mit einer Frage. Er zeigt hinüber zu einer eleganten Frau. Sie setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, vermeidet die Spalten im Pflaster und verschwindet in einem Geschäft. „Ja“, sagt eins der Mädchen, „die ist schön. Was ist mit der?“ „Die war die Geliebte von einem Nazi, aber der war verheiratet und hat sich um’bracht und die Tochter auch und auch seine Frau.“ Die Kinder staunen. „Am End‘ vom Krieg“, ergänzt Heinrich. Ihm fällt ein, dass einer fehlt. „Wo ist denn der Max?“ „Heimgegangen mit seinem Vater“, sagt die Älteste, bevor sie die Frage stellt, die ihr auf der Seele brennt: „Wie hat er sie um’bracht? Mit Gift?“ Das geht zu weit, denkt Heinrich und dass es ja Kinder sind, die da an seiner Seite sitzen. Dass er sich zusammennehmen muss und keinen Schaden anrichten darf an so jungen Wesen. „Er hat ihnen etwas vorgesungen“, beginnt er, „aber so falsch, dass seine Frau und die Tochter getan haben, als wären sie tot umgefallen. Und die andere Frau, die Geliebte im G’schäft drüben, die steigt jetzt so auf den Zehenspitzen herum, weil sie sich schämt.“ „Das ist gelogen“, fährt in das älteste Mädel an, „so kann man man niemanden totmachen, man braucht Gift oder ein Messer oder ein Seil.“ Der Bub, wie er weit genug weg sitzt, mischt sich ein: „Was weißt denn du schon, was man braucht…“ „Alles weiß ich“!, sagt das Mädel, „Hab‘ schon Tote gesehen und die letzte war mit’m Seil, haben s‘ abg’schnitten hinten bei uns vom Baum und das war nämlich die Mutti vom Max, die Frau Elfi hat s‘ g’heißen und meine Mutti hat gesagt, dass das so ausschaut, als hätt s‘ wer aufg’hängt und nicht, dass sie von selber hinaufg’stiegen ist und dass man ihr, also meiner Mutti, den Strick aufheben möchte‘, damit sie auch bald vom Ast springen kann und dass ihr dabei sicher keiner helfen müsst.“
Es zieht ein Bild auf in Heinrich, das von einem Grab und einer Nacht, von grünem Schleim und dem Bild einer jung Verstorbenen, aber nicht, dass er jetzt fragt, ob die Mutti vom Max „Elfriede Goderl“ geheißen hat wie die vom Zentralfriedhof, die noch schockstarr war und verschreckt. „Hortensien“ murmelt Heinrich und die Kinder kennen sich gar nicht mehr aus.
(Watschenmann, S. 169-170)
© 2014, Otto Müller Verlag, Salzburg