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Ulrike Schmitzer: Die Gestohlene Erinnerung.

Roman.
Wien: Edition Atelier, 2015.

192 Seiten; gebunden; Euro 19,95.
ISBN 978-3-903005-03-7.
E-Book: Euro 12,99.
ISBN 978-3-903005-67-9.

Autorin

Leseprobe

Im ‚Prolog‘ zu Ulrike Schmitzers neuem Roman, Die gestohlene Erinnerung, geht es um das, was ‚verloren‘ ist, was es „nicht mehr gibt“: den Geburtsort der Mutter ebenso wie jenen des Vaters – und schließlich überhaupt das Land, in dem diese beiden Orte lagen. Der Text geht auf die Suche nach diesen Orten und damit nach den Wurzeln der eigenen Familie, nach den Leben, die jenes der Protagonistin, einer jungen Österreicherin erster Generation, grundieren und begleiten. Die ‚gestohlene Erinnerung‘ manifestiert sich dabei in den Lücken im Familiengedächtnis und in der Unbegreiflichkeit des politischen Geschehens.

„Die große Politik hat das Schicksal unserer Familie mehrmals bestimmt“ (88), heißt es denn auch. Diese Familie ist donauschwäbisch und hat(te) ihre Heimat seit dem 18. Jahrhundert im serbischen Teil der Batschka (serb.: Backa; ungar.: Bácska), der heutigen Provinz Vojvodina. 1941, während des ‚Balkanfeldzuges‘, gliederte Hitler die Region an das ‚Deutsche Reich‘ an und übergab sie dem faschistischen Ungarn unter Miklós Horthy. Unter Tito wurden die Donauschwaben 1944 enteignet und großteils interniert. Noch im gleichen Jahr marschierte die russische Armee unter Stalin in der Batschka ein und deportierte die Donauschwaben zur Zwangsarbeit in die UdSSR. Dieser historische Kontext wird vorwiegend aus der Perspektive der Großmutter erzählt. Deren Erzählung (auf Tonband) begleitet die Reise der Tochter und der Enkeltochter, der Ich-Erzählerin, in die Vojvodina und lenkt auch die Suche der eigenen Identität.

Die gestohlene Erinnerung hat dabei durchaus dokumentarischen Anspruch, zeigt dies auch schon sprachlich. Die Auseinandersetzung des Romans mit Faschismus und politischer Willkür, Vertreibung und Massenmord, Flucht und Heimatlosigkeit, Zugehörigkeit und Identität ist freilich auch als Plädoyer für Frieden zu verstehen. Dass für den Romanumschlag eine Mutter-Kind-Darstellung, geformt aus dem Wort ‚Frieden‘ in verschiedenen Sprachen, gewählt wurde, reduziert die politische Brisanz dieser Themen allerdings recht unmotiviert auf ein Klischee.

Die Reise von Mutter und Tochter nach Serbien und damit in die politische und familiäre Vergangenheit jedenfalls ist mehr als das – und zwar eine Suche nach Erinnerung und vor allem nach Verstehbarkeit des eigenen Gewordenseins. Die Ich-Erzählerin bezeichnet das selbstreflexiv und distanziert als ‚Acting out‘, nämlich „dass man versucht, die Erfahrung der Mutter in eine Form zu bringen. Man versucht, dem nachzuspüren, was der Mutter passiert ist. Man, also ich.“ (105) Es mag als produktive Irritation verstanden werden, dass der Text nicht auf diesem abgeklärten Blick beharrt, sondern sich selbst immer wieder über das Erinnern und Erfahren stolpern lässt: Der Friedhof, den Mutter und Tochter in Serbien besuchen wollen, ist so verwachsen, dass er nicht mehr entsprechend begehbar ist; ein Denkmal finden sie schlicht nicht. Die scheinbar minutiösen Listen der Großmutter über Besitztum, Todesfälle, usw., die just dem Vergessen entgegenarbeiten sollen, weisen auffällige Lücken auf; überhaupt widerspricht die Erinnerung der Mutter immer wieder der der Großmutter. Das Bestreben der Protagonistin, in Serbien Spuren der Familie zu finden und filmisch zu konservieren, scheitert schließlich nicht nur daran, dass die Mutter den Inszenierungen der Tochter nicht entsprechen kann, sondern auch daran, dass letztere den Aufnahme- mit dem Pausenknopf verwechselt: „Der einzige passende Titel für meinen Film lautet: Mein Füße in Serbien. Oder: Serbische Spaziergänge. Klingt poetischer. Die Kamera war immer nur eingeschaltet, wenn sie über meiner Schulter hing und auf den Boden zeigte.“ (99f.)

Man könnte meinen, dass der Roman schlicht vor diesen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten des Erinnerns kapituliert: Die Sprünge zwischen Handlungs- und Zeitebenen fallen ebenso auf wie das abrupte Ende. Neben den eingeblendeten Erzählungen der Großmutter und jenen über die Reise gibt es noch die Reflexionen der Ich-Erzählerin über die eigene Kindheit und schließlich jene Passagen über das Leben der Mutter. In Hinblick auf das titelgebende Thema kann diese Zusammenstellung (fragmentarischer) Erinnerungen als notwendige erzählerische Taktik verstanden werden – als produktive Verweigerung, eine homogene Erzählung zu erfinden, die eine Vergangenheit beschwört, die ohnehin nicht gefunden werden kann.

Wenn diese Strategie im letzten Absatz des Romans aber als quasi nachträgliche Leseanleitung expliziert wird, dann wirkt es so, als hätte doch noch ein ‚Schluss‘ gefunden werden müssen – und sei es nur einer, der den Roman am Ende noch erklärt oder gar ‚rechtfertigt‘. Dort heißt es: „Wenn man in einer Familie lebt, die vertrieben wurde, dann ist selten eine Geschichte so wichtig wie die, die schon passiert ist. Es ist allerdings nicht so, dass diese eine Geschichte einmal von A bis Z erzählt wird, und dann Schluss damit. Nein! (...) Es ist alles wie ein großes Puzzle. Irgendwann fragt man sich: Was war denn da eigentlich los?“ (181) Der Text stolpert sozusagen über die eigene – ansonsten durchaus spannende – Form, die auf ein Wechselspiel von sachlichen Explikationen und erzählerischen Passagen setzt. Ein offenes Ende, das – wie der Roman selbst – eben just das Fragmenthafte und bisweilen eben auch Unstimmige von Erinnerung demonstriert, wäre sicherlich produktiver als dessen nachgeschobene Erklärung.

Die gestohlene Erinnerung ist nicht immer konsequent in der eigenen Präsentation und stilistisch bisweilen unsicher. Den Figuren in ihrem Mäandern und Irren in eigenen und fremden Erinnerungen folgen zu dürfen und gleichzeitig historische Prozesse aus einem neuen Blickwinkel aufbereitet zu bekommen, ist aber allemal spannend. Der selbstreflexive und selbstironische Duktus hat dabei viel Witz, während der zurückhaltende, knappe und oft dokumentarische Sprachstil den Blick ganz auf die Tragödie der erzählten Geschichte(n) zu lenken vermag.

Marina Rauchenbacher
22. Juli 2015

Originalbeitrag
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.


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