MEIN lieber Herr Verleger! Sie werden sich vielleicht wundern, dass ich Ihnen heute schreibe, obwohl wir doch erst letzte Woche in Wien im Gastgarten des Café Landtmann zusammengesessen sind und ich Ihnen mein Leid meine Schreibhemmung betreffend geklagt habe. Tatsächlich hatte ich mich bereits damit abgefunden gehabt, meine literarische Produktion als abgeschlossen betrachten zu müssen. In meinem schönen, neuen Atelier, das ich mir auf das Dach meines Elternhauses habe bauen lassen, wollte ich mich an das Sichten und Ordnen meines Gesamtwerks machen und schweren Herzens die Ausgabe letzter Hand vorbereiten. Und dabei bleibt es auch. Ich werde nichts mehr von mir erzählen. Ich bin für mich gestorben. Aber damals im Landtmann konnte ich ja noch nicht wissen, dass mir ganz plötzlich etwas Schönes in den Kopf kommen würde, der dringende Wunsch, eine kleine Erzählung aus der Belle Époque zu versuchen, nachdem ich fast drei Jahre lang zu schwach, zu krank, zu deprimiert zum Schreiben war. Jetzt sitze ich, zu einer Lesung eingeladen, etliche hundert Kilometer südlich von Wien auf italienischem Territorium an der Grenze zu Slowenien, in der letzten noch geteilten Stadt Europas, in Görz, und zwar in der Roman Bar in der Via Roma, durch deren große Panoramafenster man nicht nur einen kleinen Teil des Kastells hoch oben auf dem Hügel sehen kann, das das Stadtbild beherrscht, sondern auch einen guten Ausblick auf die ganze Piazza della Vittoria hat, die sich zum Rathaus, zum Palazzo del Governo hin trichterförmig auftut. (...) Ich habe mir eine Zigarre angezündet, einen Cappuccino bestellt und dem Kellner damit sofort klargemacht, dass ich nicht von hier bin. Kein Italiener trinkt Cappuccino. Michelstaedter war einer der letzten Görzer, die vielleicht hätten Cappuccino bestellen können, ohne in Verdacht zu geraten, ein Fremder zu sein. Seit Görz an Österreich fiel, stand es vier Jahrhunderte unter österreichischer Herrschaft. Carlo Michelstaedter war also Österreicher, wenn auch freilich kein deutscher Österreicher, sondern italienischer Österreicher. Und er war Großösterreicher, kein Kleinösterreicher wie ich. Aber wenn Michelstaedter nach Italien fuhr, fuhr er ins Ausland. Auch wenn ich an der Zigarre nur gepafft und ihren Rauch nicht inhaliert habe, hat mich das bisschen Nikotin, das sich durch Zunge und Gaumenwand auf den Weg ins Gehirn macht, gleich auf den Gedanken gebracht, dass da, wo ich jetzt sitze und Ihnen schreibe, heute vor hundert Jahren Carlo Michelstaedter gesessen ist und seinem Freund Vladimiro nach Florenz geschrieben hat. Leider sind freilich alle Briefe Carlos an Vladimiro verloren gegangen. Vielleicht hat die Roman Bar damals noch nicht Roman Bar geheißen und die Piazza draußen noch nicht Vittoria, denn vor hundert Jahren gab es noch keinen Sieg zu bejubeln, jedenfalls nicht den Sieg der Irredentisten über die dekadente Donaumonarchie.
© 2008 Picus Verlag, Wien.