Als im prächtigen Estädio da Luz zu Lissabon die stolzen Engländer und die stolzen Franzosen wenn schon zum Glück nicht die Klingen, sondern bloß die Waden kreuzten, die ungestüme Rooneywade dabei im Strafraum holterdipolter über die rücksichtslose Silvestrewade purzelte, der Schiedsrichter auf den Elfmeterpunkt zeigte, der große Beckham – was er, rückblickend betrachtet, besser nicht getan hätte – den Ball, der in Form und vor allem Farbgebung frappant an die schwere Eisenkugel erinnerte, an die man früher Sträflinge gekettet hat, weshalb die Schützen ganz unbewusst vielleicht Hemmungen hatten, mit den zarten Fußknöchelchen allzu heftig auf dieses tonnenschwere Ungetüm zu dreschen, auf den Elfmeterpunkt legte, und – sich total konzentrierend – um Anlauf zu nehmen, ein paar Schritte zurück machte, während sich der große Barthez Aug in Aug mit dem Kontrahenten ebenfalls total konzentriert zwischen den französischen Pfosten zu Hechtsprüngen in beide Richtungen bereit für das Duell in Lauerstellung brachte, da dachte ich mir, was die beiden wohl dachten in den letzten Zehntelsekunden vor dem Schuss.
Denn – England hin, Frankreich her – David Beckham und Fabien Barthez kannten einander von ihren gemeinsamen Jahren bei Manchester ja in- und auswendig, und gerade David Beckham hat, wenn er nicht gerade beim Friseur war, im Lauf der Jahre zu Trainingszwecken sicher viele Tausende Elfmeter auf Barthez geschossen, sodass Barthez im Estädio da Luz natürlich von vornherein wissen musste, dass Beckham seine Elfmeter mit Vorliebe in die vom Tormann aus gesehen rechte Ecke kickt, und zwar derart, dass er beim Anlauf durch seine Fußstellung einen Schuss in die linke Ecke erwarten lässt, dann aber im allerletzten Moment vor der Ballberührung durch eine minimale Drehung des Fußgelenks (die für den Tormann durch den Ball aber verdeckt bleibt) eine deutlich andere Stellung des Innenristes erzeugt und dadurch auch die Richtung der Flugbahn des Balles entscheidend verändert, sodass der getäuschte Tormann ins Leere, der Ball aber in die Maschen segelt. Barthez allerdings (dachte er, dachte ich) würde sich dank seiner langjährigen Beckhamerfahrung nicht davon beirren lassen und trotzdem nach rechts hechten.
Allerdings, dachte ich, weiß ja Beckham, dass Barthez weiß, dass Beckham gewöhnlich ins rechte Eck schießen würde, und daher wird Beckham ausnahmsweise ins linke Eck schießen. Um den Gedanken weiterzuspinnen, stellt sich die Situation nun so dar, dass ja auch Barthez weiß, dass Beckham weiß, dass Barthez weiß, dass Beckham an und für sich nach rechts und daher diesmal nach links schießen, also auch Barthez, der ursprünglich nach rechts geflogen wäre, ausnahmsweise nach links fliegen wird, was wiederum zur Folge haben müsste, dass Beckham im allerallerallerletzten Moment seine schon zahllose Male minimal veränderte Mittelfußknochenstellung abermals verändern und also zur Überraschung von Barthez, der im Flug natürlich nicht mehr umbuchen kann, doch nach rechts schießen wird (sozusagen obwohl er ursprünglich nach rechts schießen wollte), womit freilich nicht gesagt sein soll, dass dieses architektonisch komplizierte Gedankengebäude damit bereits im Stadium der Gleichenfeier angelangt ist.
Die Köpfe rauchen, und die quälende Unentschiedenheit, wem im Estädio da Luz als erstes ein Licht aufgeht, macht den bangenden Massen auf den Tribünen die Sekunden zu Minuten, die Minuten zu Stunden und so weiter, auch wenn sich die Ewigkeit summa summarum doch in wenige Zehntel hineinquetscht: Beckham schießt, Barthez hält, was aber wenig zu sagen hat, denn schon im nächsten Spiel schießt ein völlig unbekannter Kroate einen Elfmeter auf Barthez, und diesmal zappelt der Ball ziemlich unintellektuell im Netz: Europameister wurde schließlich weder der eine, noch der andere. Beckham, liest man, weiß seither nicht mehr, wer er ist, kann nachts nicht schlafen, bricht regelmäßig in Tränen aus und sucht vergeblich Hilfe bei einem Hypnotiseur. Entscheidend an der Geschichte ist also nur, dass – wie Robert Musil einmal gesagt hat – Geistesabwesenheit äußerst gesund sein kann.
© 2008 Pichler Verlag, Wien/Graz/Klagenfurt.