Leseprobe:
8. Zweihundert Meter (Antonia Grader)
Wenn ich die Brücke erreiche, darf mich nichts mehr stören. Auch dieser Mann mit der Umhängetasche nicht, den ich aus dem Augenwinkel stehen bleiben, wie in einer Vorahnung die Hand ausstrecken sehe.
Jetzt stehe ich noch hier, aber gleich werde ich losgerannt sein. Es sind nur zweihundert Meter, nicht mehr. Noch halte ich das dicke Seil in der Hand und spüre es, grob wie ein Tau, aber gleich werde ich es losgelassen haben und einfach davongelaufen sein. Vor diesem Wal und diesem Ort hier, der mir noch einmal klar gemacht hat, Marika ist erwachsen, Theresa ist es umso mehr. An dem Seil zu ziehen ist schwer, und wenn ich es tue, bewegt sich der Wal erst nach Sekunden, behäbig. Sein Weiß sticht in den Augen, aber ich blinzle nicht und schaue lange hin. Mir ist, als würde mir dieser Wal in seiner schwebenden Masse jetzt auf den letzten Metern noch etwas zuflüstern. Hätte ich einen Stift bei der Hand, ich würde vielleicht einen Gruß auf die Plane schreiben, den kurzen Gruß einer Mutter, einen Gedanken, meinen Stolz in zwei, drei Zeilen, nicht mehr. Wäre ich jetzt im Stande nachzudenken, ich würde das Tier mit einem kräftigen Ruck zu mir herunterholen, mit den Zähnen einen Edding aufmachen, die Hand ausstrecken und diese Zeilen schreiben für sie. Aber ich kann nicht mehr nachdenken, eine klare Überlegung ist auch nichts, was mir jetzt noch hilft. Ich kann die Gedanken nur nehmen, wie sie kommen, ohne zu vergessen, endlich das Seil loszulassen, loszulaufen. Und tatsächlich, es funktioniert. Eben habe ich ihn beschworen, diesen Gedanken, und jetzt ist er da. Eben habe ich mir noch gewünscht zu denken, lauf los, jetzt laufe ich schon. Ich laufe, und ich denke, aber das Denken ist kein Nachdenken mehr, eher ein Strom über mir. Aus diesem Strom heraus denke ich, es ist wahr, wenn ich sage, alles, was ich über Schuld weiß, habe ich vergessen. Wäre ich noch bei klarem Verstand, ich wüsste genau um das Gefühl, schuld zu sein. Ich bin so lange schuld gewesen und werde es danach noch sein, selbst dann und immerzu werde ich schuld sein. Aber ich werde es nicht mehr spüren so wie jetzt.
Da ist noch dieses Weiß über mir, und es tröstet mich. Ich laufe schneller, sodass sich das Weiß von oben auch in mir verteilt. Sich über den Rest Angst legt, der längst taub ist, aber noch irgendwo kauert. Alles, was ich über Schuld weiß, gebe ich jetzt in dieses Weiß hinein, das mich sicher sein lässt, das sich in und über mir ausbreitet, sodass es gleich gar keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem Fluss unten und mir auf dem Weg und dem Strom über mir. Dass wir nur ein Strom, eine Richtung sind, die mir klarer ist als gestern noch oder zuvor.
(S.120f)
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