"Vergeßt uns nicht, nehmt Österreich mit!"
Flucht
Wir wußten, daß wir jetzt unbedingt so schnell wie möglich das Land verlassen mußten. Das Affidavit hatten wir bereits, aber die Steuerunbedenklichkeitsbescheide für meinen Vater waren noch immer nicht ausgestellt. Später erfuhren wir, daß ein österreichischer Beamter die Papiere meiner Eltern zurückgehalten hatte, weil er sich wohl eine ordentliche Bestechung erwartete. Die Gier so eines korrupten Beamten konnte einen Menschen damals das Leben kosten!
Ich berichte hier nicht über alle Geschehnisse dieser schrecklichen Zeit, denn ich will keine Horrorstory erzählen. Jeder weiß heute, daß es ein Horror war. Was viel wichtiger ist und viel schwieriger, ist der Versuch, das zu erzählen, was jeder einzelne als Mensch durchgemacht hat. Die Verfolgten, Gequälten, Gedemütigten wurden Stück für Stück ihrer Würde beraubt. Über Stunden, über Tage, Monate, manchmal, falls man irgendwie überlebte, über Jahre. Um ihre Menschenwürde zu bewahren, begingen manche Selbstmord. Auch ich kam so einem Moment sehr nahe. Tage voller Angst und Horror lagen hinter mir. Ich fürchtete um das Leben meiner Familie und meiner Freunde. Einer war nach einem Besuch bei uns vor unserem Haus erschlagen worden, einfach weil er Jude war!
Es war ein ruhiger Nachmittag. Ich kam nach Hause, ohne an Selbstmord zu denken. Aber ich war voller Schmerz und ohne jegliche Hoffnung. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Zwielicht lag über Wien. Es war weder hell noch dunkel. Der Raum war düster, das Fenster stand offen. Da setzte ich mich auf den Boden. Es war wie unwillkürliches Stöhnen. Ich konnte mich nicht auf einen Stuhl setzen. Ich konnte nicht denken. Und ich sehe noch die Vorhänge vor mir, wie sie der Abendwind leise in den Raum hineinwehte. Man könnte meinen, es war ein Moment äußersten Friedens - so völlig gegensätzlich zur Realität! Das offene Fenster zog mich an die eine letzte Hoffnung. Es würde vorbei sein. Es würde endlich zu Ende sein. Meine Muskeln begannen schon, sich in Bewegung zu setzen, da hielt mich etwas zurück. Ich weiß nicht, was. Der Moment zurück ins Leben war aber kein erfreulicher. Er bedeutetete die Rückkehr in den Horror. "Du mußt überleben!" (S. 159f.)
© 1999, Picus, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.