Er war oben angelangt. Er stand nervös vor der Tür mit ihrem Namensschild. Nach längerem Zögern drückte er behutsam auf die Klingel und fuhr sich mit der Zunge zum x-ten Mal über seinen abgebrochenen Zahn. Dann hörte er Schritte, ein Innehalten und ein Drehen im Schlüsselloch. Die Tür ging auf. Er hatte ihn vorausgeahnt: diesen Anblick und den Blick, der sich über ihn stülpte, groß und verwirrt, um sich dann sofort wieder abzusetzen und auf Distanz zu gehen und ihn anklagend und ohne Gnade zu mustern. Herr T. protokollierte widerwillig: ihre fetten Haare, die fahle Haut, die violetten Ringe unter den schwarz geschminkten Augen, die blutleeren Lippen. Den weiten Rock, die lange, schwarze, ausgefaserte Strickjacke und die fingerlosen Handschuhe mitten im Hochsommer, mitten in der Hitze. Und mein Gott, wie dünn sie war! Als könnte sie jeden Moment abbrechen. In der Mitte. Sie wehrte sich gegen seinen Blick, so gut sie konnte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihren Kopf trotzig nach hinten. Sie demonstrierte für Sekunden einen so armseligen Stolz, dass es Herrn T. die Tränen in die Augen trieb. Dann drehte sie sich um und huschte wie ein Weberknecht über den abgescheuerten Parkettboden. Die unzähligen Flaschen, die herumlagen, rollten gegeneinander und tönten gläsern auf. Herr T. trottete hinter ihr her. Im Wohnraum waren die schweren dunkelgelben Vorhänge zugezogen. Verena wies ihn mit einer Handbewegung zum Schaukelstuhl. Sonst konnte man ja nirgends sitzen bei ihr. Der ganze Boden war mit Matratzen ausgelegt. Auf eine dieser Matratzen hockte sie sich jetzt. Im Türkensitz - oder war es eine Yogahaltung - saß sie da und begann, an den Fransen des Teppichs zu zupfen, den ihr der Bruder vor etlichen Jahren aus der Wüste mitgebracht hatte. Herr T. setzte sich in den Schaukelstuhl. Er versuchte, ihn mit den Füßen ruhig zu stellen und blickte um sich. Die Regale waren wie üblich vollgestopft mit Büchern aller Art, nur dass sie diesmal alle kreuz und quer durcheinanderlagen und nicht wie sonst geschlichtet in der Reihe standen. Auf ihrem arabischen Kupfertisch waren halbleere Teegläser, ein übervoller Aschenbecher und eine Schale mit Räucherstäbchen. Die Zimmerpflanzen schienen verwelkt, einige davon, darunter eine Amaryllis, ein paar Schmetterlingslilien und eine Dracaena, hatte sie vor Jahren von daheim mitgenommen. Nur der Weihnachtsstern am Fenster blühte und wucherte wie verrückt. Noch nie hatte Herr T. einen derart schönen Weihnachtsstern gesehen. Er musste Miriam davon erzählen. Vielleicht würde sie ihn fotografieren wollen und ihm dankbar sein für das Motiv. Ein Weihnachtsstern mitten im Elend, mitten im Sommer. Schön, murmelte er. Was, fragte seine Tochter. Es war das erste an ihn gerichtete Wort.
(S. 67f)
© 2008 Leykam Verlag, Graz.