Immerhin, Ende Januar, als alles blühte wie in Zentraleuropa erst Wochen später, wußte ich, wie Laura Grey küßte:
Sie fühlte sich gar nicht so steif an, wie ich mir immer vorgestellt hatte, wenn sie mit ihrem straff gekämmten Pferdeschwanz, meist mit einer Perlenkette um den Hals, mit farblos lackierten Nägeln in die Studentenmensa gestöckelt kam. Ich hatte das Gefühl, daß sie aufblühte. Ich jedenfalls war aufgeblüht.
Anfangs hatte sie nichts mit mir zu tun haben wollen, was über eine Tasse schalen Kaffees in der Mensa hinausging - obwohl ich ihr nicht unsympathisch war, wie sie zugab. Anfangs versuchte sie sogar, mir aus dem Weg zu gehen: Nach einer längeren Pause, in der sie für mich unauffindbar gewesen war, sah ich sie mit ihrer Tochter zwei Mal beim Lunch, als ich mich gerade auf dem Weg zu einer Vorlesung befand. Die beiden winkten mir zu, wir wechselten einige Worte, ich merkte mir die Zeit der unerwarteten Begegnungen.
Als ich eine Woche später, jedes Mal ein paar Minuten früher, in der Mensa erschien, tauchte Laura nicht mehr auf, als habe sie meine Taktik durchschaut. Sogar in ihrem Büro war sie nicht anzutreffen.
© 2005, Reclam Verlag, Leipzig.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.