GERADE eben, schrieb Kaltenberg, versuchte ich mir wieder vorzustellen, wie sehr es Dich, Elisabeth, überraschen mag, nach so langer Zeit von mir zu hören. Drei Jahre werden es im nächsten Monat, daß wir nichts voneinander wissen, und wahscheinlich ist es Dir recht so, denke ich, wenn ich mich an unsere letzte Begegnung erinnere. Vielleicht finde ich auch gar nicht den Mut, Dir diesen Brief zu schicken, sondern werde ihn wie alle bisherigen zerreißen und die Toilette hinunterspülen. Ich weiß es nicht, wir werden sehen.
Ich frage mich, wie es Dir und Mutter geht. Manchmal träume ich von Euch, wache auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich hoffe, sie hat Vaters Tod verwunden, ihr Leben besser eingerichtet als die Witwen hier, die ihre Tage zwischen Kirche und Friedhof verbringen und die Trauerkleidung nicht ablegen, bis sie selbst ihren letzten Weg antreten. Es gibt viele von ihnen im Dorf, denn die meisten Männer sterben jung. Sie gehen an Leberzirrhose zugrunde oder brechen sich auf der Heimfahrt vom Wirtshaus das Genick, erfrieren, die Flasche in der Hand, an den Haltestellen der Überlandbusse, werden vom Alkohol wahnsinnig und schießen sich eine Kugel in den Kopf. Allein vorige Woche fanden zwei Begräbnisse statt. Keiner der Verstorbenen war älter als fünfzig. Einer stürzte betrunken vom Dach seiner Scheune, den anderen erschlugen die Zechkumpane im Streit. Beim Leichenschmaus hat es dann angeblich kaum einen gegeben, der sich noch auf den Beinen halten konnte. Das wenigstens sagte mir Herr Orlowski, für den ich arbeite und in dessen Haus ich seit meiner Entlassung aus dem Gefängnis wohne. Sogar Kinder sollen bewußtlos unter dem Tisch gelegen sein. Aber genug davon. Jeder krepiert so, wie er will! (S. 9)
© 1999, C. H. Beck, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.