Sie ist verrückt geworden, dachte Emil. Ratlos starrte er diese Frau an, der jetzt wieder Tränen über die Wangen liefen, die sich am Küchenschrank festhalten mußte, die plötzlich so bleich wie Papier war und nichts mehr mit der Person zu tun hatte, die mit ihm gelacht und für ihn gekocht hatte.
"Es tut mir leid", murmelte Emil.
Er wollte sich umdrehen, um tatsächlich zu gehen, um diese Wohnung und diesen zerstörten, aufgelösten Menschen zu verlassen, für immer hinter sich zu lassen, und das so rasch wie möglich, als Marie Liebners Augen sich seltsam verdrehten. Das Weiße der Augäpfel wurde sichtbar. Und dann sank Marie zu Boden. Weich und lautlos, wie Blüten abfallen, fiel sie in sich zusammen und lag vor ihm. Sie lag zu seinen Füßen auf terrakottaroten Kacheln, gegen die sich ihr Gesicht totenbleich abhob. Ja, sie lag da, als wäre sie tot.
Schon wieder, dachte Emil, und er dachte es wütend, schon wieder liegt eine Frau vor mir, als wäre sie tot. Ob sie auch simuliert?
Er beugte sich über sie und konnte feststellen, daß sie atmete. Und daß er selbst wütend blieb, ohne jede Anteilnahme, nur wütend. Wütend über diesen Umstand, sich mit einer kranken, eben zusammengebrochenen und wohl tatsächlich bewußtlosen Frau in deren Küche zu befinden, tief in der Nacht und selbst todmüde nach einem langen, erschöpfenden Tag voll der widersprüchlichsten Ereignisse.
Emil richtete sich wieder auf und starrte ratlos auf Marie Liebners leblosen Körper. Was tu ich jetzt mit ihr? dachte er. Soll ich sie aufheben und auf das Bett tragen? Soll ich den Notarzt rufen? Oder gehe ich einfach? Sie wird schon wieder aufwachen und sich selbst zu helfen wissen. Schließlich hat sie sich, wie es aussieht, bisher ja auch selbst zu helfen gewusst.
(S. 160f)
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