Ich habe immer geglaubt, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Bevor mir einer der vielen Bombenangriffe einfällt, erinnere ich mich der verstaubten Brennesseln am Flußufer der Mur, die den Sommer heiß und alt machten. Nie gingen wir in diesen Fluß baden, das kalte Wasser schoß dahin und erschien uns schwarz und unergründlich tief, auch konnten wir nicht schwimmen, aber die Steine waren groß und glatt, und dazwischen lag kiesiger Sand, das Wasser kam von irgendwoher und floß irgendwohin; zum Fluß gehen war wie zum Bahnhof gehen und den abfahrenden Zügen nachsehen. Im Sommer waren wir immer barfuß unterwegs. Ich war nicht unglücklich, ich war ein Kind, ich war bewußtlos glücklich in Graz, fühlte mich wohl in der Fremde, die für mich zur Heimat wurde, ich wußte mit vier Jahren nichts von der Option, es ist mir, als hätte ich dieses Wort als Kind nie gehört, obwohl ich mir heute sage, daß zu Hause immer davon geredet worden sein muß, in Meran vor und nach der Abstimmung und in Graz während und nach dem Krieg.
Ich habe unter der Option nicht gelitten, vielleicht unter den Folgen, von denen ich als Kind nicht wissen konnte, daß sie Folgen einer politischen Entscheidung meines Vaters waren. Wir waren unerwünscht, sagte mir später mein Bruder, in Graz waren wir Eindringlinge. Wir waren Verräter, sagte mein Bruder, für die steirischen Patrioten waren wir Verräter, weil wir deutsche Erde den Italienern überlassen hatten, und jetzt nahmen wir den steirischen Heimatbesitzern Arbeitsplätze weg und Wohnungen, wir wurden Katzelmacher, Spaghettifresser.
(S. 9-10)
© 2005, Hanser, München/Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.