Hörspielproduktion des Hessischen Rundfunks (Radio Frankfurt) 1947
Bearbeitung: Stefan Hermlin
Regie: Theodor Steiner
Musik: Wolfgang Rudolf
Sprecher: Ursula Langrock, Wolfgang Büttner, Stephan Hermlin, Siegfried Lowitz u.v.a.
3 CDs mit einem Geleitwort von Friedrich Pfäfflin
Spielzeit: ca 205 Min.
ISBN 3-89584-991-X
der hörverlag 2001
Karl Kraus, der oft Auszüge aus den "Letzten Tagen der Menschheit" vorgetragen und selbst eine Kurzfassung erstellt hat, hielt das einem Mars-Theater zugedachte Stück prinzipiell für unaufführbar. War das Koketterie, ging es Kraus um technische Gründe - das an mehr als 200 Schauplätzen spielende Werk hat etwa 500 Figuren - oder ist der "Mars" hier eine, ja auch im Stück angewandte Metapher für das, was den Krieg "überleben" wird? Oder sollen wir die Furcht des Autors ernst nehmen, dass auf der Bühne "ein Zurücktreten des geistigen Inhalts vor der stofflichen Situation wohl unvermeidbar" wäre. Wie auch immer: es gibt eine mittlerweile immer länger werdende Aufführungsliste der "Letzten Tage". Sie beginnt mit dem Vortrag szenischer Fragmente durch Kraus selbst (die "Raben" sind ja auch auf CD überliefert), der 1930 im Konzerthaussaal eine "Bühnenbearbeitung" in zwei Abenden vortrug, und mit Aufführungen der "Letzten Nacht" ab 1923 bis zur legendären Inszenierung durch Heinrich Fischer im Berliner "Theater am Schifferbaudamm" 1930. Im Exil hat es einige Vortragsabende gegeben, darunter eine von Leopold Lindtberg veranstaltete Lesung am Zürcher Schauspielhaus 1945. Unter den Zuhörern befanden sich die Exilanten Hans Mayer - einer der ersten Literaturwissenschafter, der sich professionell mit Kraus beschäftigte - und der Lyriker Stephan Hermlin. Hermlin, der sich auch später in der DDR für Kraus einsetzte, hat in seiner späteren Funktion als Leiter der Literaturredaktion von Radio Frankfurt am 29. und 30. April 1947 eine Lesung des Stückes veranstaltet, die jetzt auf drei akustisch sauber aufbereiteten CDs vorliegt.
Jede derartige Aufführung von Teilen der "Letzten Tage" steht vor dem Problem, welche Textteile sie herausnehmen soll - ein Problem, das insofern besonders schwer zu lösen ist, weil wir noch immer nicht genau verstanden haben, nach welchen Kriterien Kraus selbst seine gigantische Materialmenge geordnet hat. Stephan Hermlins Bearbeitung hat den Text um etwa drei Viertel auf ca. 50 Bilder gekürzt. Die wenigen sichtbaren Ordnungsprinzipien des Originals wurden dabei weitgehend aufgegeben, Hermlin versucht eine Auswahl, die nicht unbedingt repräsentativ ist - der als Kommentator so wesentliche "Nörgler", das Alter ego des Autors, kommt nur einmal in einem Monolog, einmal im Dialog mit seinem Pendant, dem "Optimisten" vor - damit wird der "geistige Inhalt" empfindlich beschnitten. Hermlin ordnet das Material nach den Kriterien der "Ökonomie der Aufmerksamkeit", die im Medium Radio gelten: so scheint er in seiner Bearbeitung stark auf wirksame Kontraste in der Abfolge der Texte gesetzt zu haben. Friedrich Pfäfflin verweist in seinem instruktiven Geleitwort auch darauf, dass Hermlins Textauswahl "unter dem Eindruck der Erfahrung des Dritten Reiches mit dem verheerenden Krieg, dem Grauen der Lager" stünde. Für Hermlin liegt der "geistige Inhalt" offensichtlich in den Analogien in der von Kraus beschriebenen Mentalität der Menschen dem Krieg gegenüber: kriegsbegeisterte Hetzmassen, intellektuelle Schreibtischtäter, welche die eigene Überlegenheit feiern, korrupte kleine Kriegsgewinnler und über allem die universelle Präsenz der Phrase. Die Bearbeitung leugnet die Besonderheit des Ersten Weltkriegs, die dieser noch für Kraus hatte, und lässt den "Ersten" und den "Zweiten" Weltkrieg sozusagen zu einem großen Krieg verschmelzen. Eine solche Sichtweise des Stückes hat eine historische Berechtigung: schon der Umstand, dass die Lesung im durch Bomben zerstörten Frankfurt stattfindet, bestätigt die weitverbreitete Annahme, dass die "Letzten Tage der Menschheit" durch die Friedenszeit von 1918 bis 1939 nicht wirklich unterbrochen wurden. Der qualitative Unterschied zwischen den beiden Kriegen - die Gräueltaten im Osten und damit verbunden der Holocaust - durchbrechen allerdings diese Analogie.
Unter der Regie Theodor Steiners haben 27 SprecherInnen in dem Hörspiel mitgewirkt, darunter befinden sich einige Namen (etwa Siegfried Lowitz), die in der Theater- und Fernsehgeschichte der Bundesrepublik prominent wurden, auch Hermlin selbst hat bei der Produktion mitgewirkt. Leider ordnet das beiliegende Büchlein die Sprecher nicht den Rollen zu. Die SprecherInnen scheinen allesamt aus Deutschland zu stammen und das bringt für österreichische Zuhörer wohl einige Probleme mit sich. Das aggressive Wienerisch in Helmut Qualtingers Interpretation (und auch die Selbstinterpretationen durch Karl Kraus) haben eine Erwartungshaltung geschaffen, die von der Aufnahme frustriert wird. Für österreichische Hörer ergibt sich beim Zuhören quasi automatisch ein eigenartiger Verfremdungseffekt, wenn der Nowotny und der Pokorny einander rituell an der Sirkecke begrüßen und dabei den "Ton" nicht treffen. Es heißt zwar einmal im gesprochenen Text: "Wir sind schließlich keine Piefkes", doch tatsächlich versteht es kaum jemand von den SprecherInnen, das österreichische Idiom zu sprechen. Die in Deutschland spielenden Texte - und das ist eine Minderheit - wirken damit um einiges überzeugender.
Als erste Begegnung mit einer Produktion der "Letzten Tage" ist das Album zu empfehlen, wer sich mit einer authentischen und auch involvierenderen Version auseinandersetzen möchte, sei auf die - im Archiv des "Literaturhauses" zugängliche - komplette Fassung des ORF unter der Regie Hans Krendlesbergers verwiesen.
Originalbeitrag
Alfred Pfabigan
5. Februar 2003