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Evelyn Grill

März 2006

Evelyn Grills Roman Vanitas oder Hofstätters Begierden, eine ebenso brillante wie blutrünstige Satire auf die südwestdeutsche High-Society, wurde im Herbst 2005 für den Deutschen Buchpreis nominiert, soeben ist ihr neuer Roman Der Sammler erschienen. Am 9. März 2006 hat die Autorin an der Universität Straßburg erstmals öffentlich daraus gelesen, weitere Termine in Deutschland und Österreich folgen. Im Literaturhaus Wien präsentiert Evelyn Grill den "Sammler" am Mittwoch, den 22. März. Unser Rezensent Georg Renöckl hat zu diesem Anlaß das folgende Gespräch mit ihr geführt:

Georg Renöckl: Mit Vanitas oder Hofstätters Begierden haben Sie es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2005 geschafft, soeben ist Der Sammler erschienen. Welche Erwartungen verbinden Sie mit Ihrem neuen Roman?

Evelyn Grill: Erwartungen keine. Aber Wünsche und Hoffnungen, die ich mit jedem neuen Buch habe, daß es gut wahrgenommen wird, daß es viel gelesen und natürlich auch gekauft wird.

Welche Rolle hat für Sie die Nominierung für den Buchpreis gespielt, nach einer jahrzehntelangen Existenz als "Geheimtipp"?

Zum einen hat sie mir zumindest in literarisch interessierten Kreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad verschafft, also mir tatsächlich geholfen, aus dem Status des "Geheimtipps" herauszukommen, ein Status, in dem man sich ja nicht ein ganzes Schriftstellerleben lang wohl fühlen kann, und zum anderen ist mir auch von außen die Qualität meines Romans bestätigt worden. Und das war für mich fast das wichtigste.

Vanitas hat neben vielen positiven auch ambivalente oder ablehnende Kritiken bekommen, wurde unter anderem als "monothematisch" und als "Museumsbesucherroman" bezeichnet. Befürchten Sie, dass dem Sammler das Etikett "Vermüllungsroman" umgehängt wird?

Ach, "Vermüllungsroman" wäre vielleicht gar nicht das schlimmste. Es spräche allerdings für die Uninspiriertheit des Rezensenten.

Alois Hofstätter, der Held in Vanitas, hat jegliche Ethik durch Ästhetik ersetzt, und auch der Sammler Alfred Irgang ordnet vieles in seinem Leben der Ästhetik unter. Wie kommen Sie zu diesem ungewöhnlichen Wertesystem?

Es wäre falsch, in Alfred nur eine Karikatur des Alois Hofstätter zu sehen. Gewiß verfolgt Alfred Irgang eine gewisse Ästhetik mit der Art der Zumüllung, aber das wichtigste für ihn ist eigentlich das Archivieren, die Angst vor dem Verlust seiner Geschichte. Er braucht die Dinge, um sich zu beweisen, daß er existiert hat und noch existiert. Er schreibt ja auf jeden Joghurtbecher den Tag, an dem er ihn leergegessen hat, und er zählt die Haare, die ihm ausfallen, es wird eigentlich alles archiviert. Wenn er seine Kartons ineinander schachtelt, dann ist das keine Unordnung bei ihm, das ist die höchste, die peinlichste Ordnung - in der man aber gar nichts findet und die ja bekannterweise immer im Chaos endet. Aber darüberhinaus hat er an manchem seiner Funde einen besonderen Gefallen, diese Gegenstände drapiert er dann auf seine Schachtelwände und fühlt sich glücklich, das könnte man dann als ästhetischen oder als künstlerischen Zugang bezeichnen, denn als Künstler fühlt er sich ja auch insgeheim.

Die Helden Ihrer beiden letzten Romane sind beide beziehungsunfähig. In Winterquartier und Ins Ohr, die in den letzten Jahren bei Suhrkamp herausgekommen sind, scheitern Beziehungen oder führen in die Katastrophe. In Vanitas gibt es eine einzige echte Liebesregung: eine albanische Migrantin verliebt sich in eine Philippinin, die aber aufgrund zahlreicher Operationen zu einer Art menschlichem Roboter abgestumpft ist. Sind Sie grundsätzlich pessimistisch, was zwischenmenschliche Beziehungen betrifft?

Nein, das bin ich nicht, denn in meinem Leben als Mensch glaube ich an das Glücken zwischenmenschlicher Beziehungen, wie ich es ja gottlob erleben darf. Daß die Beziehungen bei den Personen in meinen Romanen fast immer scheitern, liegt wohl daran, daß ich mich häufig den Außenseitern der Gesellschaft, den Benachteiligten zuwende, ihnen will ich eine Stimme geben. Auch Hofstätter ist ja letztlich ein Opfer. Aber gerade im Sammler finden am Ende vier Paare zueinander. Denn da ist der Sammler selbst das Opfer.

Auch die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft stellen Sie im Sammler nicht sehr rosig dar. Wie hoch schätzen Sie die Intoleranz bzw. den Grad an Uniformisierung und Anpassungsdruck in unserer Gesellschaft ein?

Ich fürchte, der ist ziemlich groß. Man merkt es selbst häufig nicht, weil man sich fast automatisch anpaßt, in einer Art vorauseilendem Gehorsam. Es braucht eine souveräne Persönlichkeit, sich dem Druck der Gesellschaft oder auch nur einer Gruppe zu entziehen. Insofern ist Irgang eine starke Persönlichkeit, freilich mit pathologischem Hintergrund.

Inwieweit sehen Sie Ihre Bücher als engagierte, gesellschaftskritische Literatur?

Wie ich schon sagte, gebe ich gerne den Schwachen oder den Schwächeren in unserer Gesellschaft eine Stimme. Das wird in meiner Novelle Wilma, und im Roman Winterquartier ganz deutlich; aber auch in Vanitas gebe ich den Zukurzgekommenen einen Platz. Vielleicht nicht den Hauptplatz.

Im Sammler lassen Sie eine Schriftstellerin auftreten, die Sie als Ihr "Alter ego" bezeichnen. Diese Dora Stein ist eine mitleidlose Beobachterin, die sich über Katastrophen freut, weil sie dadurch Stoff für ihre Romane hat. Sie selbst wurden von der Kritik oft als genaue Beobachterin, wahlweise mit "kaltem" oder "sezierendem" Blick bezeichnet. Wie viel von Ihnen selbst steckt denn in Dora Stein, oder anders gefragt: Wie gefährlich ist es, mit Ihnen befreundet zu sein?

Vielleicht ist die Gefahr nicht so groß, weil ich mich, wenn ich schreibe, von vielem befreie, und ich bin dann wieder ein sehr freundlicher Mensch. Ein Künstler hat mir einmal gesagt, wenn man ihn nicht hätte Bildhauer werden lassen, wäre er ein Mörder geworden, und vielleicht ist das auch bei mir so. Ein bisschen bin ich natürlich diese Schriftstellerin, man ist ja immer auf der Lauer nach Stoffen, man ist ziemlich rücksichtslos, wirklich rücksichtslos beim Beschreiben. Auch wenn man gefahr läuft, jemanden zu verletzen - wenn es ein guter Stoff ist, dann kann man nicht darauf verzichten. Ich versuche zwar die Menschen und Schicksale, denen ich in der Wirklichkeit begegne und die mich reizen, sie literarisch zu "verwerten", für sich und andere unkenntlich zu machen, und sehr vieles wird ja zwangsläufig dazu erfunden. Viele Figuren sind rein fiktiv, aber sobald ich sie in einer bestimmten Topographie ansiedle, denn die Topographie ist für mich sehr wichtig, um überhaupt mit dem Schreiben anfangen zu können, also sobald der Ort bekannt ist, in dem die Handlung spielt, glauben die dort Ansässigen, die realen Personen hinter meinen fiktiven zu erkennen. Auch wenn es sich um Personen handelt, die ich gar nicht kenne. Vielleicht ist das eine Koketterie, aber ich habe die These, dass ein Schriftsteller kein guter Mensch ist. Und je besser der Mensch, desto schlechter der Schriftsteller. Und dann macht es mir natürlich Spaß, das ist wahrscheinlich eine masochistische Ader, mich selber schlecht zu machen. Diese Dora Stein ist ja eine enorm unsympathische Person, und wenn ich das so lese, dann freue ich mich, dass sie so schrecklich unsympathisch ist.

Die Teilnehmer der Stammtischrunde im Sammler scheinen ganz bestimmte Eigenschaften zu verkörpern - die mitleidlose Schriftstellerin, die bemutternde Sozialarbeiterin usw. -, sie tragen auch sprechende Namen. Handelt es sich hier eher um Charaktere oder eher um Typen?

Am Stammtisch spielt jeder seine Rolle, das ist eine Gruppendynamik, die sich hier entwickelt. Die Personen haben aber auch noch ein Privatleben, das ich auch schildere und da lernt man andere Facetten ihrer Individualität kennen, sodaß ich in ihnen durchaus Charaktere und nicht nur Typen erkenne. Nur Typen zu beschreiben wäre mir auch langweilig.

Gegen Ende der Handlung im Sammler beschreiben Sie den Schmerz, der in Alfred wütet. Mir ist diese Stelle aufgefallen, da ich bis dahin nicht den Eindruck hatte, dass die Gefühle ihrer Figuren eine wichtige Rolle spielen. Wie viel Nähe bzw. wie viel Distanz haben Sie zu Ihren Figuren?

Ich habe einen Messie als Helden genommen, weil ich seine Charakterstruktur überhaupt nicht verstanden habe. Es ist ja in mir auch dieser Widerstand gewesen gegen so einen, der sich so extrem zumüllt und auch die anderen Bewohner gefährdet mit seinen Kakerlaken, die in seinem Hochhaus überall herumkriechen - so einer ist mir natürlich nicht sympathisch, das ist ja klar. Aber andererseits, wenn man über ihn schreibt, dann muss man eine gewisse Empathie einem Menschen gegenüber empfinden, sonst kann man das nicht. Ich glaube, zum Schluss habe ich ihn verstanden, er ist mir näher gekommen, aber ich finde ihn trotzdem nicht so, dass ich mich mit ihm auf Dauer zusammentun möchte. Doch bei aller Empathie, man darf die Figuren nicht zu nahe an sich herankommen lassen, sonst gerät man in Gefahr sentimental zu werden und so etwas ist der Tod des Literarischen.

Ins Ohr war ihr bisher letzter Roman, der ein Frauenschicksal in der österreichischen Provinz, um es so plakativ zu formulieren, zum Inhalt hat. Ist dieses Thema für Sie erledigt?

Das weiß ich nicht. Im Augenblick beschäftigen mich andere Projekte.

Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Wechsel vom renommierten deutschen Verlag Suhrkamp zu Residenz, einem kleinen österreichischen Verlag?

Ich muß vielleicht vorausschicken, daß es, als ich zu schreiben angefangen habe und noch in Österreich lebte, mein größter Wunsch war, ein Buch im Residenz Verlag herauszubringen. Das ist mir damals nicht gelungen. Die Bücher erschienen im Suhrkamp Verlag und zwar als Taschenbücher und dort sollten meine Bücher auch weiterhin erscheinen. Der Residenz Verlag hat "Vanitas" als Hardcover herausgebracht, mit Lesebändchen, das hat mir viel bedeutet. Darüberhinaus fühle ich mich sehr wohl im kleinen, renommierten (das möchte ich hier betonen) Residenz Verlag. Ich werde sowohl von meiner Lektorin Dr. Astrid Graf und von Dr. Barbara Brunner, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert, bestens betreut, außerdem schätze ich den Verleger Herwig Bitsche, der eine gesunde Ausgewogenheit zwischen ökonomischer Machbarkeit und Risikofreudigkeit verfolgt. Überdies ist es nicht dem großen Suhrkamp Verlag, sondern erst dem kleinen Residenz Verlag gelungen, mich aus der Nische des "Geheimtipps" herauszuholen.

Gleichzeitig mit dem Wechsel zu einem österreichischen Verlag hat sich der Schauplatz ihrer Romane in Ihre neue Heimat verlagert. Ist Österreich für Sie inzwischen zu weit weg?

Irgendeine Figur aus Österreich kommt schon immer wieder rein: Alois in Vanitas oder die Schriftstellerin im Sammler. Auch in dem Buch, an dem ich gerade schreibe, kommen Österreicher und österreichische Schauplätze vor. Ich glaube nicht, dass ich mich von Österreich ganz lösen werde, das will ich auch gar nicht. Ich war über vierzig, als ich nach Deutschland ging, und da hat man schon eine Weile gelebt, eine Prägung erhalten.

Gerade in Vanitas ist Österreich ja sehr präsent. Die barocke Thematik, der Hang zu Ritualen, die Schuld, die Hofstätter auf sich lädt, vielleicht auch der makabre Humor, das alles dürfte seine Wurzeln im katholisch geprägten Österreich haben. Bleibt man auch nach Jahrzehnten, so wie Dora Stein im Sammler, eine österreichische Schriftstellerin - ob man will oder nicht?

Ich glaube, dass Deutschland auch durch den Protestantismus eine andere Art der Literatur hervorgebracht hat als Österreich. Das Katholische hat diese Sadomasochismen, manifestiert im Reliquienkult, und das Theatralische, eine Sinnlichkeit und eine Grausamkeit, die aber immer ästhetisiert wird. Ich glaube schon, dass das Katholische, diese Nekrophilie, die hier betrieben wird, mich eingefärbt hat. Das ist für mich ein Faszinosum, andererseits mokiere ich mich darüber - auf jeden Fall kommt man nicht los davon. Ich werde mich immer als österreichische Schriftstellerin empfinden.

 


13. März 2006

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