aus der Erzählung "Titanic"
"Als stellvertretendem Gefängnisdirektor oblag es mir, neu überstellte Gefangene in Augenschein zu nehmen. Nikolai Iwanowitsch war ein berühmter Mann, ein großer bourgeoiser Wissenschaftler, Träger des Lenin-Ordens und – nicht verwunderlich für einen Feind der Sowjetunion – zahlloser ausländischer Würden. Nun war er nichts mehr. Er, der Sohn eines leitenden Angestellten einer Textilfabrik, kniete vor mir, dem Sohn eines armen Tagelöhners [...].
Es war für mich nichts Besonderes mehr, den tiefen Fall hoher Herren mitanzusehen, und es gab auf den ersten Blick keinen Grund, weshalb mir der Volksfeind Wawilow bemerkenswerter erscheinen sollte als ein anderer, dennoch erweckte er mein Interesse durch etwas, das ich als "unversehrten Kern" bezeichnen möchte. Er schien unter seinem zermürbten Geist gewissermaßen ein Persönlichkeitsskelett zu besitzen, das ihn durch alle Erosionsvorgänge hindurch aufrecht hielt und das durch keine Einwirkung von außen zu verändern war.
Bei den meisten bourgeoisen Gefangenen zeigte sich sehr schnell, was übrigblieb, wenn man ihnen Beruf, Ämter, Wohnung, Kleider, Familie und Freunde wegnahm: ein jämmerlicher Hohlraum, umgeben von einem erbarmungswürdigen Nervenkostüm. Manche wurden zu Kriechern und versuchten sich einzuschmeicheln, andere blieben arrogant und hofften bis zuletzt, von einem Freund in den höchsten Rängen noch gerettet zu werden. Man konnte sich vorstellen, wie alles, was sie früher besessen hatten, zu ihrem Gefühl beigetragen hatte, etwas Besseres zu sein: der Spazierstock, die gesellschaftlich gewandte Ehefrau, der cremefarbene Sommeranzug, die Briefe einflussreicher Kollegen, die Datscha mit eigenen Bienenstöcken, die hübschen, artigen Kinder, der silberne Samowar, sogar die eigene Sprechweise, die eigene Schrift, die eingeübten Gesten. Manieren verflüchtigen sich, nichts blieb als der blanke Egoismus – und das galt für die Popen nicht weniger als für die anderen.
Nikolai Iwanowitsch jedoch machte den Eindruck, als wäre er nie überheblich gewesen. Noch im Niederknien brachte er ein verbindliches Lächeln zustande, das auf eine Höflichkeit weit jenseits der Gefängnismauern verwies und mit dem verkrampften Grinsen der Kriecher nichts gemein hatte. Ich fragte ihn, ob er seine Taten bereue. Er nickte und erklärte, er bereue seine Taten tief. Ich fragte ihn, ob er alles anders machen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Oh ja, erwiderte er, er würde vieles anders machen.
Dies war natürlich ein klares Zeichen von Widerstand.
(S. 6ff)
© 2010 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien.