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Leseprobe: Melitta Breznik - "Nordlicht."

Lofoten, 27. Dezember 2003

Ich kann die Enge im Haus nicht mehr ertragen. Alles erscheint mir schmuddelig und schal, und meine eigene Stimme geht mir auf die Nerven, wenn ich sie bei meinen Selbstgesprächen höre. Gestern Nacht um drei Uhr bin ich zum Meer hinuntergegangen und habe laut gerufen, meinen Namen zuerst, dann immer wieder Hallo, und zuletzt habe ich so laut gegen den Sturm und die Brandung angebrüllt, bis ich endlich weinen konnte, mich auf einen glitschignassen Felsen setzte und meinen Kopf in den Handflächen verbarg. Zuerst rieb ich die Haut meines Gesichts, das nass war vom Schneeregen und den Tränen, dann begann ich mit dem Handrücken behutsam an den Wangen entlangzustreichen, wie es meine Mutter manchmal getan hatte, wenn sie mich trösten wollte. Ich fühlte mich traurig und erleichtert, und die Spannung der Stunden davor ließ nach. Müde ging ich zum Haus zurück und fand, es war Zeit, wieder mehr unter Menschen zu gehen und einen anderen Hallraum zu suchen als den meiner eigenen Gegenwart.

Die Katze, die mir zugelaufen ist, wird ein paar Tage lang ohne mich zurechtkommen, ich werde Rune und seine Frau bitten, sie zu füttern. Andere Verpflichtungen habe ich nicht. Das Tier mit dem schwarzen büscheligen Fell ist eines Tages aufgetaucht, als ich auf der Bank vor dem Haus saß. Die Katze nahm gegenüber auf einem Holzstapel Platz, ohne mich sonderlich zu begrüßen. Sie sah mich auf eine Art an, wie ich sie von Katzen nicht gewohnt war, fixierte mich, verfolgte meine Bewegungen, aber der Blick ihrer weit geöffneten Augen blieb nicht auf mir haften, er drang durch mich hindurch. Es war, als ob sie irgendetwas sehen konnte, was hinter mir, außerhalb von mir lag, aber doch zu mir zu gehören schien. Seither lege ich ihr regelmäßig Futter vor das Haus, und sie kommt jeden Tag. Es tut mir gut, mich um sie zu kümmern. Mein eigenes Essen ist mir inzwischen unwichtiger als das der Katze.

[...]

Es ist Zeit, ein paar Tage von hier wegzufahren. Ich werde mit der Hurtigruten nach Kjirkenes an der russischen Grenze fahren und wieder zurück, bevor meine Kreise immer enger werden. Ich werde die Dunkelheit nicht verlassen müssen, sondern noch weiter eintauchen in die Polarnacht. Wenn ich eine einzige Stunde südlich des Polarkreises die schmeichelnde Wärme von Sonnenstrahlen in mich aufnehmen würde, wäre es mir nicht mehr möglich, in den Norden zurückzukehren, um hier auf die Rückkunft der Sonne zu warten. Ich will den Versuch, im Dunklen zu überwintern, nicht abbrechen, denn ich kann mir im Moment nicht vorstellen, dorthin zurückzukehren, von wo ich geflohen bin. Ich habe Abstand, Klarheit und Kälte gesucht und gefunden, und ich will nicht zurück in den Trubel von vorher. Ich glaube inzwischen nicht mehr daran, an einer Schizophrenie zu erkranken. Meine Angst davor verringert sich langsam, und auch ohne Medikamente sind die Schatten und Sinnestäuschungen nicht mehr zurückgekehrt. Die Natur, die mich umgibt, hält mich im Moment im Alltag, und mir wird immer deutlicher, je mehr Zeit seit meiner Abreise vergangen ist, dass ich mich in den letzten Jahren bis zur Erschöpfung verausgabt habe. Ich war nicht mehr in der Lage gewesen, meinen Hunger, mein Bedürfnis nach Schlaf, auch meine Traurigkeit wahrzunehmen, bevor ich endlich im Stande gewesen war, die Kündigung auf die Post zu tragen.
(S. 81ff)

© 2009 Luchterhand Literaturverlag, München.

 

 

 

 

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