Anselm Findeisen hätte gerne noch weiter gelesen, doch er hielt es nicht mehr aus in seinem Stuhl. Es war elf Uhr vormittags, hoch an der Zeit, die Übungen zu machen. Er zog die obere Schreibtischlade auf, in der der Morbus-Bechterew-Gymnastik-Kalender lag. Heute war Mattentag. Er wählte die Nummer 300, sagte zu Birgit, in der nächsten halben Stunde bin ich nicht zu sprechen, zog die Bodenmatte aus der mittleren Schublade, an die er, ohne die Wirbelsäule zu verbiegen, gerade noch herankam, hielt sie an die Tischkante und öffnete den Schnappverschluss. Die Gymnastikmatte machte einen Satz auf den Boden. Jetzt kam der schwierigste Teil, das Aufstehen. Er stemmte seine Hände auf die Armlehnen und hob seinen Körper langsam aus dem Schreibtischstuhl, ohne dabei die Stellung von Lendenwirbeln und Becken zu verändern, weil es sonst schmerzhaft werden würde. Am leichtesten ging es, wenn er sich gleichzeitig nach vorne beugte. Gekrümmt wie die Hexe in den Illustrationen zu Grimms Rotkäppchen, schlurfte er zur Tür, um sie abzusperren.
Alle im Verlag wussten, dass er sich nur mit regelmäßigen Übungen beweglich halten konnte, aber er wollte nicht, dass ihm irgendjemand dabei zusah. Es reichte, wenn er sich im Geiste selbst dabei zusah und Mitleid empfand mit einem frühzeitig den Altersschwächen anheim gefallenen Kleinverleger. Den körperlichen Teil seiner Person wäre er am liebsten losgeworden. Selbst das ausgefeilteste Gymnastikkonzept konnte seine Krankheit nicht heilen, so viel war gewiss. Wenn es ihm gegönnt wäre, ansonsten organisch gesund zu bleiben, würde er im Rollstuhl und letztlich im Rollbett enden. Und so war er mit seinen Gedanken oft in der Zukunft und fragte sich, ob er wohl erkennen werde, wann es an der Zeit wäre, Schluss zu machen, oder ob er sich selbst etwas vorgaukeln werde und am Ende gar andere bitten musste, ihn zu erlösen. Das stellte er sich als den schlimmsten Zustand des Lebens vor, sterben zu wollen, aber nicht sterben zu können. Zum Weiterleben gleichsam verurteilt zu sein.
Während eines Kuraufenthalts in Jáchymov, der gerade erst zwei Wochen zurücklag, war er gezwungen gewesen, sich tagaus, tagein mit dem Verlauf seiner Krankheit zu beschäftigen. Bei der Heimfahrt stellte sich heraus, dass bestimmte Bewegungen, die er eigentlich schon aufgegeben hatte, wie der Blick durch die Heckscheibe beim Rückwärtsfahren, nun wieder möglich waren. Die Physiotherapeutin hatte ihm versichert, dass es bei seiner Krankheit, mit der sie täglich zu tun habe, keine klaren Prognosen gebe. Das machte ihm neuen Mut. Vielleicht konnte er durch Übungen die Krankheit so im Zaum halten, dass es ihm bis ins hohe Alter möglich wäre, sich von seinem Schreibtischstuhl zu erheben. Denn das war ihm immer als das albtraumhafte Ende seines Verlegerdaseins erschienen. Er würde die Nummer 300 wählen, Birgit würde fragen, wie lange willst du ungestört sein, und er würde antworten müssen, bitte hilf mir, ich kann nicht mehr aufstehen. Er wusste, was ihm alles drohte, wenn er auf die Übungen verzichten würde. In einem fortgeschrittenen Stadium würde man die gänzlich versteifte Wirbelsäule, die einschlägige Literatur sprach von einer Bambuswirbelsäule, in einer aufwendigen Operation brechen und mit Metallplatten in einer aufrechteren Stellung neu verschrauben müssen. Eine Prozedur, die selten ohne größere Komplikationen abläuft, weil die Wirbel in diesem Krankheitsstadium durch Osteoporose schon so angegriffen sind, dass sie oft nicht einmal den Belastungen beim Umbetten oder Aufsetzen gewachsen sind. Rückenmarkschäden und Lähmungen sind die Folge. Anstatt sich in die Knechtschaft seiner Krankheit zu begeben und sich von immer neuen Einschränkungen langsam zermürben zu lassen, wollte er sich lieber als der Feldwebel des eigenen Körpers aufspielen und immer dann, wenn die Krankengymnastik anstand, darauf achten, dass der Patient den trotz aller Tabletten meist schmerzhaften Übungen auch gewissenhaft nachkam. Er war der Herr seines Körpers, und ihm war klar, dass seine Tage als Herr davon abhingen, dass der Knecht spürte. Seit seinem Kuraufenthalt in Jáchymov war ihm jedoch, als sollte der Knecht nicht nur spüren, sondern selbst vom Leben noch etwas haben.
(S. 13-15)
© 2011 S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main