Zu meinem zweiten Besuch im Gefängnis bei Dragoljub Milanovic kam es im Juni 2010, zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Dieses Mal war ich mit dem Häftling in der Besucherzelle allein. Wenn er sich in den fünfzehn vergangenen Monaten, da seine Situation eher schlimmer, fast hoffnungslos geworden war (auch kaum mehr Besuchserlaubnisse), verändert hatte, so zum womöglich noch Kindlicheren hin – selbst wenn er Bitteres sagte, Verachtung ausdrückte, behielt Dragoljub Milanovic sein Kindergesicht, große stille Augen, Sanftheit um den Mund, der sich keinmal verzog, schon gar nicht nach unten; als seien Bitterkeit und Verachtung objektiv geworden, Sache, nicht allein seine. Seine einzige Bewegung oder Gebärde blieb jene, welche, so scheint mir jedenfalls, sämtlichen Südslawen gemeinsam ist: Ein leichtes Kopfwegdrehen, oder eher -wegbiegen, vergleichbar „unserem“ Augenverdrehen, auch Schulterzucken, und doch wieder ganz und gar nicht – denn es bedeutet, über unser Abfälligwerden oder sonstwas hinaus, auch noch, so scheint es mir jedenfalls wieder, ein: „Das da, und das da, es sollte nicht sein. Es ist lächerlich. Es ist stockdumm. Es ist ein Skandal. – Aber so ist es halt. Was soll man sagen? Was kann man tun? Alles sinnlos…“ Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besuchszellentisch, eine still über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.
(S. 26 f.)
© 2011 Jung und Jung, Salzburg.