Eigenartig. Kaum saß sie auf der Bank oder im Liegestuhl vor der Hütte, fühlte Bubi sich wohl und genoss das Alleinsein. Sobald sie aber in die Hütte zurückkehrte, war jede Leichtigkeit verflogen und eine bleierne Unzufriedenheit legte sich drückend auf ihre Schultern. Bubi beschloss, so viel Zeit wie möglich außerhalb der Hütte zu verbringen. Schon jetzt, am Morgen, beschlich sie nackte Angst beim Gedanken an einen weiteren Abend zwischen den engen Wänden.
Nach dem Frühstück unternahm sie einen Spaziergang auf den nächsten Grat und schaute mit dem Fernglas zum Großvenediger hinüber. Im Süden erhoben sich aus dem Gipfelmeer die Spitzen der Dolomiten und des mächtigen Großglockners. Sie setzte sich auf einen sonnenwarmen, von gelbgrünen Flechten überwucherten Felsbrocken und ließ den Blick über die Täler schweifen. Mit nackten Füßen fuhr sie über das struppige Gras. Es erinnerte in bisschen an Bernds bärtiges Gesicht. Was hatte sie nur an ihm auszusetzen gehabt? Er war doch hübsch und fröhlich. Sie hatte es vergessen, wusste aber auch nicht mehr, was an ihm so außerordentlich gewesen war.
Auf dem Rückweg kam sie an einer anderen Hütte vorbei. Der steinerne Bau hob sich nur durch die eingelassenen Fenster von den umliegenden Felsbrocken ab, aus dessen Splittern er errichtet worden war. Ein Alpengasthof, in dem im Winter die Skitouristen rasteten. Die Vorstellung, sich mit jemandem unterhalten zu können oder auch nur den Gesprächen der umliegenden Tische zu lauschen, ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Zu ihrer Enttäuschung hatte der Gasthof geschlossen. Menschenleer lag die Terrasse vor ihr. Der Almerer mit dem gefleckten Hund fiel ihr ein, dem sie zwei Tage zuvor begegnet war. Bestimmt werkelte er auch heute etwas weiter unterhalb selbstgenügsam vor sich hin. Sie stellte sich vor, wie sie zu ihm hinabstieg. Wie sie mit ihm Dialekt sprach. Wie sie den Hund kraulte. Dann überfiel sie eine seltsame Angst. Sie verwarf den Gedanken und ging zur Hütte hinunter.
(S. 86f)
© 2012 Milena Verlag, Wien.