Mein Leben ist ein ausgewaschenes Senfglas. Ein kleiner, zylindrischer Behälter. Er fasst zweihundert Milliliter, vielleicht sogar ein Vierterl. Zehn Zentimeter ist das Glas hoch, mit einem selbstgemalten Schaf auf der einen und einem Comic-Wolf auf der anderen Seite. Früher konnte ich den Wolf vom Fuchs nicht unterscheiden. Wollte nicht verstehen, dass der Fuchs nicht grau und der Wolf nicht rot sein kann. Konnten die Eichhörnchen doch auch beides sein: silbrig glänzendes Fell im Coleridge Park, in Cambridge, meinem Zuhause. Oder ein rötlich schimmernder Pelz, wie das Eichhörnchen auf dem Baum vor dem Balkon meiner Großmutter. Die deutsche Großmutter in Frankfurt, deren Sprache ich nicht beherrschte, die ich trotzdem jeden Sommer besuchte. Damals, als ich noch zu klein war, um zu verstehen, warum mir die Kinder dort nicht antworteten, als ich sie – auf Englisch – nach ihrer Sandschaufel fragte. Zwei Wochen im Winter und zwei im Sommer gehörten den deutschen Verwandten. Ich war ein kleines Ich auf Reisen, mit einem Teddybären im Rucksack und einer Schachtel Jellybeans in der Hand. Opa war ein Mann in langen Unterhosen und Oma eine Frau, die Rindsrouladen kochte. In Frankfurt gab es das 50-Pfennig-Eis und Zeichentrickfilme in einem damals schon alten Röhrenfernseher. Manchmal zählten wir auch die roten Eichhörnchen vor dem Fenster.
Oma und Opa waren Familie, die ich nie im Alltag erlebte, überhaupt nicht richtig kennenlernen durfte.
Im Herbst fuhr ich wieder mit meinen Eltern im Bus durch Cambridge. Im Park fütterten wir die Eichhörnchen, diesmal die grauen, mit geknackten Nüssen. Das Laub raschelte unter meinen schwarzen Spangenschuhen. Ich war fünf und es roch nach Schulanfang.
1989 trug ich das graue Eichhörnchen auf der Brust. Das Emblem meiner Privatschule: Der Nager zierte die Schuluniform, das Jahrbuch, den Sportpokal, den ich beim Staffellauf in der ersten Klasse bei Mrs. Stanley gewann. Grau war das Eichhörnchen, grau das Schürzenkleid, grau die Unterhose. Wie der Rest der verregneten englischen Insel, auf der es nur im Frühling blühte: zuerst die Osterglocken zum Opferfest, dann der Magnolienbaum, später der Fingerhut. Foxglove. Der Handschuh des Fuchses, dessen Blüte nicht rot wie der Fuchs ist, sondern lila. Meine liebste Blume. Die liebste Blume eines verwirrten Kindes, das entwurzelt wurde. Umgetopft.
(S. 5f.)
© 2012 Verlag Proverbis, Wien.