MATHILDA UND XAVER
Jeder Mensch trägt in sich ein Motiv, ein Thema, das die Partitur und Melodie seines Lebens prägt. Meistens ist es so, dass dieses Motiv stark verwoben ist mit der Herkunft und sich dann über das gesamte Leben ausbreitet und stärker wird. Man schafft es nicht, davon loszukommen, ganz egal, wie sehr man sich bemüht, es zumindest blasser werden zu lassen. Manchen Menschen ist ihr Lebensthema durchaus bewusst, zumindest in gewissen Lebensphasen, manchen wiederum nicht, oft deshalb nicht, weil sie nicht in der Lage sind, es sich einzugestehen. Und oft umspielt ein zweites Motiv das erste und gibt ihm die besondere, persönliche Note.
Welche Motive gibt es? lnges Motiv zum Beispiel war eindeutig die Treue, sie lebte sie bis zum Tod und darüber hinaus. Sie war ihrem Mann Thomas treu, er war ihr erster und einziger Geliebter das ganze Leben lang, tatsächlich schenkte sie keinem anderen Mann je einen Gedanken oder einen Blick, und sie war ihrem Sohn treu, für den sie alles tat. Am stärksten jedoch war ihre Treue gegenüber ihren Vorfahren und dem Elternhaus, das ihre Vorfahren ihr anvertraut hatten. Kurz vor ihrem Tod gründete sie kurz entschlossen zusammen mit einer alten Freundin eine Stiftung - sie war Stifterin und Stiftungsvorständin in einem -, und das Vermögen der Stiftung bestand einzig und allein aus dem heruntergekommenen riesigen Haus Schuroth. Nutznießer war Xaver und seine Familie, falls er eine gründen sollte, und Zweck war, dass er das Haus zeitlebens nicht verkaufen durfte, denn das war lnges größte Sorge: dass ihr Sohn es sofort nach ihrem Tod verscherbeln würde, und das wollte sie mit allen Mitteln verhindern. Nach seinem Tod hätte er das Haus nur einem seiner Kinder vermachen dürfen, falls er jedoch keine Nachkommen zeugen sollte, sollte es eine Autorenvereinigung erhalten. Inges zweites Motiv war eindeutig Härte, zu sich selbst und gegenüber anderen, denn ihre Treue war nicht immer liebevoll. Thornas' Motiv war die Sanftmut, Marthas war eindeutig Hass, das Motiv von Marhildas Vater Paul war Ergebenheit.
Mathildas Motiv war Lebenstüchtigkeit, und sie war sich dessen durchaus bewusst, sie war sogar stolz darauf, lebte ganz dafür. Sie war tüchtig und meisterte ihr Leben. Sie wusste, was sie wollte und steuerte darauf zu. Gab es etwas Erfüllenderes? Ihre gesamte Persönlichkeit bestand aus Lebenstüchtigkeit, aus ihren Poren drang unermüdlich das Credo »Ich vergeude mein Leben nicht, also bin ich!« Da sie nicht wollte, dass man ihr Verbissenheit nachsagte, versuchte sie ihrer Lebenstüchtigkeit einen Hauch von Leichtigkeit und Beschwingtheit zu verleihen, was ihr aber nicht immer gelang, denn ihr zweites Motiv war die Schwermut.
In den ersten zehn Jahren in der Schule fehlte sie keinen einzigen Tag, da sie sich lieber mit Bronchitis in den Unterricht schleppte, als sich die Blöße zu geben, sich beim Direktor krankzumelden. Wenn sie merkte, dass ein Schüler oder ein Kollege Probleme hatte, war sie zur Stelle und setzte sich für denjenigen ein und half. Sie war stolz darauf, wenn Leute ihr zu verstehen gaben, dass sie sie für tüchtig hielten, wenn Eltern von Schülern ihr Komplimente machten, sie hätten bisher keine so engagierte Lehrerin, die derart viele verschiedene Methoden im Unterricht verwendete, kennengelernt. Sie achtete auf ein gepflegtes Äußeres und gab sich in der Arbeit, im Freundeskreis, mit Xaver, stets freundlich, fröhlich und optimistisch, obwohl es in ihrem Innersten oft ganz anders aussah. Das Bild ihrer Mutter hatte sich tief in ihr Innerstes eingegraben: fett, schlecht riechend, grantig, energielos, mit öligen Haaren und schmutziger Kleiderschürze auf dem Sofa sitzend. Marhilda wollte das absolute Gegenteil ihrer Mutter sein und handelte jeden Tag danach. Es war wie ein Zwang; sich gehen zu lassen war eine Todsünde. Selbst am Wochenende und in den Ferien war Mathilda tüchtig, entweder wurde für die Schule vorbereitet und korrigiert, oder es wurden Freizeitbeschäftigungen geplant und organisiert, man wanderte, fuhr Rad, ging ins Theater, in Ausstellungen, man lungerte nicht herum.
Nur bei Xaver konnte sie nie richtig punkten mit ihrer Lebenstüchtigkeit, und sie litt darunter.
S. 157ff.