XXVII
Nicht in der Blüt und Purpurtraub
Ist heilige Kraft allein, es nährt
Das Leben vom Leide sich, Schwester!
Und trinkt, wie mein Held, doch auch
Am Todeskelche sich glücklich!
Friedrich Hölderlin
(Panthea; aus: Der Tod des Empedokles, 2. Fassung)
Empedokles – er hat dir noch gefehlt. Bisher hattest du dich um ihn herum gemogelt, ihn vertagt. Der einzige dramatische Versuch eures Dichters. Drei Anläufe – dennoch unvollendet geblieben.
Empedokles. Philosoph, Arzt und Prophet der Antike, einige Jahre vor Sokrates. Auf Sizilien geboren. Der es als seine Berufung sah, Lehrer des Volkes zu sein. Und an der Tatsache verzweifelte, dass eben dieses Volk ihn nicht verstand, nicht verstehen wollte. Ein Volk, dass so gar keine Veranlassung sah, mündig werden zu wollen. Den Mut aufzubringen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen.
Sapere aude!
Wage es, weise zu sein! Oder: Entschließe dich zur Einsicht! Der Leitsatz Kants: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ entstammt einem Sprichwort aus der Antike. Aus römischer Zeit. Es ist als Zitat bei Horaz zu finden, aber dieser Dichter lebte viel später als Empedokles. Was nicht bedeuten muss, dass es zu Zeiten dieses Philosophen keine griechische Entsprechung desselben gab.
Aus grenzenlosem Gram darüber, dass dieses Volk nun nicht zu retten war, soll Empedokles sich in den Ätna gestürzt haben. Eine feurige Todesart! Man kann alles übertreiben, findest du. Sinn oder Unsinn eines Opfertodes, der ja der Literatur zu allen Zeiten und in allen möglichen Gegenden der Welt Stoff ohne Ende geliefert hat, konnten sich dir bei allem Bemühen nie so richtig erschließen. Aber ohne Übertreibungen finden wohl nun mal keine Dramen statt, werden es zumindest nicht für wert befunden, auf Papier festgehalten zu werden. Oder gar auf die Bühne gebracht.
…es nährt
Das Leben vom Leide sich…
Es gibt Zeiten, zu denen du solches nicht hören willst. Wo es zu viel wird, sich alles in dir sträubt gegen den wohlmeinenden Rat, dem Leiden mit Gewalt Höheres abgewinnen zu wollen. Da ist deine Lebenszeit, die dir davon rinnt wie Sand im Glas, unwiederbringlich. Das Leben wie eine Sanduhr kurz vor Ablauf einfach auf den Kopf stellen, von neuem anlaufen lassen? Manchmal geht das. Aber für wie lange?
Und da wären noch die Gewaltigen, die dir offensichtlich diesen einen Sommer nicht gönnen wollen. Noch nicht einmal diesen! Und all dein Bemühen geht auf in dem Versuch, ihnen, den Gewaltigen, wer immer sie sein mögen, genau diesen Sommer – womöglich im letzten Augenblick – doch noch abzutrotzen.
Ihr armen Spötter! Ist’s erfreulich euch,
Wenn einer leidet, der euch groß geschienen?
Und achtet ihr, wie leichterworbnen Raub
Den Starken, wenn er schwach geworden ist?
Euch reizt die Frucht, die reif zur Erde fällt,
Doch glaubt es mir, nicht alles reift für Euch.
Friedrich Hölderlin
(Aus: Der Tod des Empedokles, 1. Fassung)
Die Spötter. Oh ja! Sie sind zuverlässig zur Stelle. Immer dann, wenn der Versuch, allen Schicksalswidrigkeiten zum Trotz das eigene Leben gestalten zu wollen, scheinbar zu misslingen droht. Immer auch dann, wenn sich einer aufreibt für eine Sache und kein Gehör, geschweige denn Mitstreiter zu finden scheint. Du siehst sie an allen Ecken sitzen.
Oder? Ist auch dies am Ende nichts anderes als Einbildung? Vermutest du sie nur überall, siehst sie vor deinem geistigen Auge als allgegenwärtig? Schleichende Paranoia, daher rührend, dass du dir selbst deine Missgeschicke und Unzulänglichkeiten nicht verzeihen kannst? Und der einzige Spötter, der dir zur wirklichen Gefahr werden kann, bist in Wahrheit du selbst? Der übelste Spötter von allen übrigens, der Unbarmherzigste, Gnadenloseste, der nur darauf wartet, dich zu verurteilen, zu vernichten und für alle Zeiten zu verdammen. Es heißt doch immer, es sei wichtig, seine Feinde zu kennen. Was aber, wenn dein größter Feind du selbst bist?
Vielleicht auch gerade deshalb die alte Aufforderung der Antike in der berühmten Inschrift am Apollo-Tempel von Delphi:
Erkenne dich selbst!
Der Tod des Helden. Opfer. Aber wofür? Oder doch: Verzweiflungstat? Gewiss, die Bestürzung über die menschliche Dummheit und Unzulänglichkeit kann gewaltige Ausmaße annehmen. Aber solche?
Oder sollte es den radikalen Versuch vorstellen, dem Volk den Führer zu nehmen, damit es aufhört, blind nachzulaufen und anfängt, selbst zu denken und verantwortlich zu handeln? Aber, wie du fürchtest, wird das träge Volk zu allen Zeiten sich neue Führer suchen und sich diese eher nicht nach dem Maß ihrer Weisheit, sondern vielmehr nach der Lautstärke ihres Geschreis erwählen. Mag dieses noch so tumb und böse sein!
Gab euer Dichter dieses Projekt letztlich deshalb wieder auf? Er, der sich in der altgriechischen Kultur und Sprache bestens auskannte, die Dichter Pindar und Sophokles ins Deutsche übersetzte, wobei er mit hohem Bestreben daran arbeitete, zugleich auch Rhythmus und Sprachmelodie des Griechischen auf die deutsche Sprache zu übertragen. Und mehr und mehr dazu überging, diese Form auch in seiner eigenen Dichtung anzuwenden. Dass seine Werke schon deshalb als schwierig zu lesen und zu verstehen galten, könnte durchaus mit zum Bild des „verrückten Dichters“ beigetragen haben. In einem Briefwechsel zwischen zeitgenössischen Schriftstellerkollegen aus dem Jahr 1805 findet sich der Satz:
Hölderlin, der immer halb verrückt ist, zackert auch am Pindar.
(Johann Isaak von Gerning an Karl Ludwig von Knebel)
Was dich zum Lachen bringt: Der alte schwäbische Ausdruck „Zackern“ für intensives Arbeiten ist dir noch von früher bestens vertraut!
Euer Dichter „zackerte“ gewiss! Er hatte seine Messlatte stets sehr hoch angelegt, bereits Fertiges vielfach immer wieder umgeschrieben, um die richtige Sprache und ihre Vollendung förmlich gerungen. Sich wundgerieben an dem Umstand, dass es Bereiche gibt – und in diesen bewegte er sich, drang immer weiter in sie vor –, in denen Sprache an ihre Grenzen gelangt, wo man feststellt, dass sie hinter dem, was man ausdrücken will, unweigerlich zurückbleibt. Dies sich eingestehen muss nicht zwingend Kapitulation bedeuten. Vielleicht findet viel wirklich Großes letztlich nur im Schweigen seinen angemessenen Ausdruck und euer Dichter tat dort, wo er etwas unvollendet ließ, schlicht nichts anderes, als dies zu akzeptieren und zu respektieren.
Solches mag schwer zu ertragen sein in einer Zeit, die es gewohnt ist, alles erklären zu müssen, alles auszudiskutieren, im schlimmsten Falle alles zu zerreden. Es liegt euch Nachgeborenen nicht. Es erfordert Demut, die euch nicht an den Schulen gelehrt wurde. Ihr müsst wieder erneut zu Lernenden werden!
Aus Bettina Johl: Holunderblüten. Zwei Liebende auf den Spuren Hölderlins. Roman. Erschienen 2020 als Sonderausgabe von literaturkritik.de. Seit dem 20.12.2020 auch als E-Book (PDF) erhältlich.