Dienstag, 24.3.
Bin nachts um 1 Uhr aufgewacht, völlig gerädert. Verstopfte Nase, belegte Stimme, verklebte Bronchien. Als Hypochonder registriere ich jede Missempfindung in meinem Körper. Bin ich infiziert? Auch Angela Merkel ist in häuslicher Quarantäne; sie hatte Kontakt mit einem Arzt, der positiv getestet wurde. Wenn sie das Virus hat, wieviele Politiker hat sie angesteckt? Friedrich Merz und Cem Özdemir sind positiv, ebenso Johannes B. Kerner.
Kontaktverbot für alle, die nicht im selben Haushalt leben – mehr Eingriff in die Persönlichkeitsrechte geht kaum. Christian Lindner macht sich Sorgen um die Freiheit des Individuums. Hätte nie gedacht, dass ich die FDP mal gut finden würde. Ich verstehe nicht, warum die einen arbeiten gehen dürfen, die anderen aber nicht mit dem besten Freund spazierengehen.
Es ist erstaunlich, wie schnell man sich an die neuen Zustände gewöhnt. Der Prozess der Anpassung ist schleichend. Straßenbild mit Mundschutz kommt mir schon nicht mehr befremdlich vor. Noch vor wenigen Wochen dachte ich bei Bildern aus Wuhan an Science fiction, jetzt ist das Normalität. Die Plexiglas-Scheibe zwischen Kassiererin und Kunden im Supermarkt – normal. Eine Schlange vorm Metzger oder Bäcker – normal. Abgetrennte Sitzbereiche im Stehcafé. Der Shutdown hat unsere Wahrnehmung total verändert. Das Einkaufen ist entschleunigt. Jeder schiebt seinen Einkaufswagen in Zeitlupe mit mindestens 1 Meter Abstand durch die Gänge. Nur bei Aldi und Lidl wird noch geschubst und gedrängelt. Ich meide ab sofort diese Läden, bevor mir einer in der Warteschlange vor der Kasse in den Nacken hustet. Es ist mir bewusst, dass ich elitär bin. Vor dem Aldi am Ostbahnhof habe ich einen Rentner gesehen, der im Korb seines Rollators sieben Flaschen Ouzo transportierte. Sonst nichts.
Depression macht sich breit. Wenn Ärger kommt über die Bevormundung von oben, geht es mir besser. Nur kein Opfer sein, alles hinnehmen! Ich traue mich kaum mehr, den Bus zu benutzen. Überall lauern kontaminierte Oberflächen. Hält sich das Virus auf Türklinken? Kann ich mich am Paket des Lieferdienstes anstecken?
Wohin mit der Energie? Ich jogge von Geschäft zu Geschäft, kaufe in dem einen Klopapier, in dem anderen Ziegenkäse. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, Zeit zu sparen, sondern Zeit zu schinden. Langeweile ist der größte Feind.
Die häusliche Gewalt nimmt zu, lese ich in der „Welt“. Ich will mir nicht ausmalen, wie aggressiv Männer sind, wenn sie den ganzen Tag zuhause rumlungern und zuviel Bier in sich reinschütten. Wie gruselig, wenn sie dann auch noch übergriffig werden.
Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020