Sonntag, 29.3

5 Uhr morgens, Sommerzeit. Zwei Freunde haben mir schon WhatsApps geschickt. Sie leiden auch unter Schlaflosigkeit. Das Schreiben fällt mir heute schwer, ich komme nur stockend voran. Viele Assoziationen, keine Struktur. Mühsam sammle ich die Wörter in meinem Kopf. Es macht mir zu schaffen, dass ich nicht systemrelevant bin, sondern ein überflüssiges Mitglied der Gesellschaft.

Slavoj Žižek, der Haudegen der Philosophie, ist in Slowenien in Quarantäne. Aber, wie es so seine manische Art ist, er hält nicht still. Wenn er spricht, ist es, als würden die Sätze sich überschlagen. Žižek, der Marxismus mit Psychoanalyse verknüpft, plädiert für eine radikale Änderung des Kapitalismus in Richtung Internationalismus. Bei einer Pandemie, sagt er, machen Alleingänge keinen Sinn. Und er mahnt: „Es wird nicht alles einfach wieder normal werden. Wir werden die Zerbrechlichkeit unserer Situation wahrnehmen.“ Ja, es wird alles andere als lustig werden, das Leben nach dem Ausnahmezustand. Zur „Normalität“, wie wir sie kannten, werden wir vielleicht nie mehr zurückkehren. Immer wird da im Hinterkopf der Gedanke sein: Ist der Mensch, mit dem ich da gerade Kontakt habe, infiziert? Auslandsreisen – in weiter Ferne. Jedes Land eine geschlossene Gesellschaft. Wo die Pandemie wütet, herrscht Isolation.

Diese Ausgangssperre ist eine Zumutung. Wenn das noch lange so weitergeht, werden viele Schaden davontragen. Im Münchner Bahnhofsviertel haben Nachbarn die Polizei gerufen, weil aus einer Wohnung laute Musik drang. Zwei Freundinnen hatten sich besucht, sie wurden wegen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz angezeigt.

Manchmal denke ich, ich bin in einem absurden Theaterstück. „Warten auf Corona“. Käfighaltung, der Aktionsradius gleich null. Auf dem Eiffelturm leuchten ab heute Nacht die Worte „Stay home!“ Bald ist Wochenende, sagt der Moderator des „Morgen-Magazins“ und schaut etwas verlegen. Dann können wir uns von der anstrengenden Woche im Homeoffice erholen! Wo, im 1-Zimmer-Apartment?

Und ich haben die Corona-Resistance gegründet. Aus einem Spaß heraus geboren, hat unser Widerstand doch einen ernsten Hintergrund: Krieg dem Virus, Krieg der Panikmache! Krieg der Dauerbeschallung mit „Bleiben Sie zuhause!“ Schluss mit der Bombardierung durch negative Schlagzeilen: Inferno in den Krankenhäusern! Das Toten-Heim!

Prof. Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts, spricht davon, dass sich 60 bis 70 Prozent der Deutschen infizieren werden. Auch der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin plädiert für „Durchseuchung“ (Was für ein schreckliches Wort! Wie sich die Sprache in wenigen Tagen verändert hat…). Die Jungen sollen raus, sich ruhig infizieren – dann sind sie immun und können sich um die Alten kümmern. Ein altruistischer Vorschlag oder der Zynismus des Corona-Technokraten?

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020