Der Ausbruch des Krieges
(II 14) Die Leiden, die aus diesem Kriege entsprangen, standen in gar keinem Verhältnis zu seinem äußeren Anlaß. Die Juden von Cäsarea hatten nämlich eine Synagoge neben einem Grundstück das einem griechischen Einwohner der Stadt gehörte. Wiederholt hatten sie versucht, das Grundstück käuflich zu erwerben, und einen Preis dafür geboten der den wahren Wert mehrfach überstieg. Doch der Eigentümer war zum Verkauf nicht bereit, errichtete vielmehr, um sie zu ärgern, auf dem Grundstück mehrere Werkstätten, sodaß für die Juden nur ein schmaler Durchgang blieb. Jetzt wollten einige jugendliche Hitzköpfe den Bau der Werkstätten mit Gewalt verhindern; als aber Florus gegen sie einschritt, boten ihm die vermögenderen Juden acht Talente, wenn er den Bau untersage. Florus versprach ihnen auch jede Unterstützung, um das Geld zu bekommen; doch kaum hatte er es in Händen, da reiste er nach Sebaste ab und überließ es den Streitenden, ihre Sache allein auszumachen.
Als die Juden am nächsten Sabbat in der Synagoge waren, stellte ein streitsüchtiger Einwohner von Cäsarea einen umgekehrten Topf neben den Eingang und opferte Vögel darauf. Das versetzte die Juden in große Wut; denn das war eine Verhöhnung ihrer Gesetze und zugleich eine Entweihung des Ortes. Vergeblich versuchten die besonneneren Juden die heißblütigen Jungen zurückzuhalten; es kam zu einem Handgemenge, dem schließlich ein römischer Reiteroberst ein Ende machte. Darauf begaben sich zwölf angesehene Juden nach Sebate zu Florus, um sich über das Vorgefallene zu beklagen, zugleich aber ihn an sein Versprechen zu erinnern. Florus ließ sie jedoch kurzerhand ins Gefängnis werfen.
Dies erfüllte die Jerusalemer mit Erbitterung, doch hielten sie ihren Zorn einstweilen noch zurück. Als dann aber Florus aus dem Tempelschatz siebzehn Talente entnehmen ließ, unter dem Vorwand, der Kaiser habe das Geld nötig, strömte das Volk mit lautem Geschrei in den Tempel, rief den Namen des Kaisers an und flehte um Befreiung von der Tyrannei; andere gingen mit einem Korb umher und bettelten um Almosen „für den armen Florus“. Darauf brach dieser sofort mit Reiterei und Fußvolk gegen Jerusalem auf, um die Stadt in Schrecken zu setzen und auszuplündern.
Florus zu beschwichtigen zog das Volk den Soldaten zur Begrüßung entgegen. Er aber schickte einen Centurio mit fünfzig Reitern voraus und forderte sie auf, sich heimzuscheren; sie brauchten jetzt keine freundliche Gesinnung gegen den zu heucheln den sie vorher so schmählich beschimpft hätten; wenn sie echte Männer wären, so sollten sie ihre Freiheitsliebe nicht mit Worten sondern mit Waffen beweisen. Im selben Augenblick sprengten auch schon die Reiter in die Menge hinein, die erschreckt auseinanderstob. Alle zogen sich in ihre Häuser zurück und verbrachten die Nacht mit Zittern und Zagen.
Florus aber stieg im Königlichen Palast[1] ab. Am nächsten Tage ließ er sich vor diesem auf einem Richterstuhl nieder; und alsbald fanden sich auch die Hohenpriester und die mächtigsten und angesehensten Männer der Stadt ein. Er verlangte von ihnen die Auslieferung derer, die ihn beschimpft hätten, und drohte ihnen an, sie selbst zu bestrafen, wenn sie die Schuldigen nicht vorführten. Sie aber wiesen auf die friedliche Gesinnung des Volkes hin; wenn in einer so großen Menge auch einige Schreier und jugendlich Unbesonnene sich fänden, so sei das nicht zu verwundern; unmöglich aber sei es, die Schuldigen zu ermitteln, da alle aus Furcht vor Strafe sich aufs Leugnen legen würden; er möge daher, wenn er die Stadt den Römern erhalten wolle, um der vielen Unschuldigen willen den wenigen Schuldigen verzeihen. Diese Worte entfachten jedoch erst recht den Zorn des Florus; und er schrie den Soldaten zu, sie sollten den Oberen Markt[2] plündern und jeden, der ihnen in den Weg käme, niederstoßen. Die Soldaten plünderten nun aber nicht bloß den ihnen angewiesenen Stadtteil, sondern stürmten auch in jedes beliebige Haus und mordeten die Bewohner. In den engen Gassen drängten sich die Fliehenden; wer ergriffen wurde wurde niedergemacht. Viele friedliebende Bürger wurden verhaftet und zu Florus geschleppt, der sie geißeln und dann kreuzigen ließ; nicht einmal Männer des Ritterstandes die jüdischer Abstammung waren blieben verschont.[3] (15) Vergebens bemühte sich Bernice, König Agrippas Schwester, die sich eines Gelübdes wegen in Jerusalem aufhielt, Florus zur Einstellung des Mordens zu bewegen.
Am folgenden Tage strömte das Volk in großer Erregung auf dem Oberen Markt zusammen und bejammerte mit lauter Klage die Gemordeten, während zugleich der Haß gegen Florus sich in argen Verwünschungen Luft machte. Voll Besorgnis darüber zerrissen die Obersten und die Hohenpriester ihre Kleider und beschworen die Menge fußfällig, Florus nicht zum Äußersten zu reizen und diese gehorchten sofort.
Der Prokurator jedoch war über das Erlöschen des Aufruhrs sehr unzufrieden; er beschied daher, um ihn wieder anzufachen, die Hohenpriester und die angesehensten Bürger zu sich und eröffnete ihnen, er könne nur dann überzeugt sein daß die Juden nicht mehr an Empörung dächten, wenn sie den von Cäsarea anrückenden Truppen zur Begrüßung entgegenzögen. Es waren nämlich zwei Kohorten im Anmarsch. Während nun die Genannten das Volk zusammenriefen, ließ Florus den Centurionen der Kohorten sagen, sie sollten ihren Männern befehlen, die Begrüßung seitens der Juden nicht zu erwidern, vielmehr, wenn sie dann Schimpfworte über ihn hörten, von ihren Waffen Gebrauch zu machen.
Mittlerweile hatten die Hohenpriester das Volk auf dem Tempelplatz versammelt und es ermahnt, den Römern entgegenzuziehen und sie freundlich zu empfangen. Da aber die Empörungslustigen davon nichts wissen wollten und die Menge unter dem Eindruck des Gemetzels sich diesen zuneigte, so kamen sämtliche Priester und Diener Gottes heraus, die heiligen Geräte vor sich her tragend und mit dem gottesdienstlichen Schmuck angetan, desgleichen die Zitherspieler und Chorsänger mit ihren Instrumenten, fielen nieder und flehten das Volk an, ihnen doch den Besitz des heiligen Schmucks zu erhalten und die Römer nicht zur Wegnahme der gottgeweihten Kleinodien zu reizen. Auch die Hohenpriester, das Haupt mit Asche bestreut und die Brust entblößt, da sie ihre Kleider zerrissen hatten, beschworen die Vornehmen einzelnen und das Volk im ganzen, doch nicht durch Unterlassung einer unbedeutenden Förmlichkeit ihre Vaterstadt der Verwüstung preiszugeben. So gelang es ihnen endlich, die erregte Menge zu beschwichtigen.
In Ruhe und Ordnung zog nun das Volk den Soldaten entgegen und begrüßte sie, als sie näher kamen. Da aber der Gruß nicht erwidert wurde, so fingen die Aufrührer an, über Florus zu schimpfen. Damit war das Zeichen zum Losschlagen gegeben: Im Nu hatten die Soldaten die Juden umzingelt und hieben mit Knüppeln auf sie ein; wer sich zur Flucht wandte wurde von den Reitern eingeholt und von den Hufen der Rosse zertreten. Viele erlagen den Schlägen der Römer; aber weit größer war die Zahl derer die von ihren eigenen Landsleuten zu Tode gedrückt wurden, besonders vor den Toren, wo ein fürchterliches Gedränge entstand. Zugleich mit den Fliehenden drangen auch die Soldaten in die Stadt ein und versuchten, das Volk durch den Bezetha genannten Stadtteil[4] zurückzudrängen, um sich des Tempelplatzes und der Burg Antonia zu bemächtigen. Das gelang ihnen aber nicht; denn das Volk hielt ihrem Angriff stand und warf, über die Dächer verteilt, Steine auf die Römer hinab. Da diesen die aus der Höhe kommenden Geschosse arg zusetzten und sie zu schwach waren, um die in den engen Gassen sich stauende Menschenmasse zu durchbrechen, so zogen sie sich in ihr Lager bei der Hofburg zurück.
Florus beschied nun die Hohenpriester samt dem Hohen Rate zu sich und erklärte ihnen, er wolle die Stadt räumen und ihnen eine Besatzung in der Stärke, die sie wünschten, zurücklassen. Sie versprachen, für die Ruhe und Sicherheit der Stadt einzustehn, wenn er ihnen eine Kohorte da lasse, jedoch nicht die die eben gekämpft habe, denn über sie sei das Volk wegen dessen, was es durch sie erlitten, erbittert. So gab er ihnen eine andre Kohorte und kehrte mit den übrigen Truppen nach Cäsarea zurück.
(16) Von hier sandte Florus an Cestius, den Statthalter von Syrien, einen Bericht, worin er lügenhafterweise die Juden beschuldigte den Kampf angefangen zu haben. Anderseits schilderten die Obersten Jerusalems dem Cestius das gesetzeswidrige Verfahren des Florus gegen die Stadt. Cestius schickte darauf einen Tribunen nach Jerusalem, um die Sache zu untersuchen und über die Gesinnung der Juden zu berichten. Dieser konnte, nur von seinem Diener begleitet, ganz Jerusalem unbehelligt durchstreifen und sich von der Friedfertigkeit der Jerusalemer ebenso wie von ihrer Erbitterung über die Grausamkeit des Florus überzeugen. Nachdem er das Volk wegen seiner Treue gegen die Römer belobt und dem Tempel Gottes seine Verehrung bezeigt hatte, kehrte er zu Cestius zurück.
Danach aber geschah es, daß der Tempelhauptmann Eleazar, Sohn des Hohenpriesters Ananias, ein verwegener junger Mann, die Priester aufforderte, keine Opfer mehr von Nichtjuden anzunehmen. Das war der eigentliche Anfang des Krieges gegen die Römer; denn es lag hierin eine Zurückweisung des Opfers für diese und des Kaisers.[5] Vergebens wiesen die Obersten nebst den Hohenpriestern und angesehensten Farisäern auf die Unvereinbarkeit dieser Maßnahme mit den bisherigen Gepflogenheiten und auf das Gefährliche dieses Beginnens hin. Sie mußten sich überzeugen, daß ihnen die aufrührerische Bewegung bereits über den Kopf gewachsen war. Da sie fürchteten, die Römer möchten ihren Zorn zuerst an ihnen auslassen, so schickten sie, um jeden Verdacht der Mitschuld von sich abzuwälzen, sowohl an Florus wie an Agrippa Gesandte mit der Bitte, mit Heeresmacht gegen Jerusalem zu ziehen und den Aufstand zu dämpfen, bevor es zu spät sei. Florus, der den Krieg zum wollte, ließ die Gesandten ohne jede Antwort; Agrippa aber sandte zweitausend Reiter. Dadurch ermutigt, besetzten die Obersten mit den Hohenpriestern und dem friedliebenden Teil des Volkes die Oberstadt; Unterstadt und Tempelbezirk dagegen blieben in der Hand der Aufrührer. Eine Woche lang versuchten die beiden Parteien unter vielem Blutvergießen vergeblich, sich aus ihren Stellungen zu verdrängen. Dann aber gelang es Eleazar, nachdem er starken Zuzug von Sikariern erhalten hatte, den Königlichen die Oberstadt zu entreißen. Hierauf steckten die Aufrührer das Haus des Hohenpriesters Ananias und den Palast Agrippas und Bernices in Brand, ebenso, zur Freude aller Schuldner, das Archiv, wo die Schuldurkunden aufbewahrt waren. Ein Teil der Obersten und der Hohepriester verbargen sich in unterirdischen Gängen, während die übrigen mit den Königlichen in den Oberen Palast[6] flüchteten.
Tags darauf griffen die Aufständischen die Burg Antonia an; nach zweitägiger Belagerung machten sie die Besatzung nieder und steckten die Burg in Brand. Hierauf rückten sie vor den Palast und suchten dessen Mauern zu ersteigen. Die Eingeschlossenen aber beschossen sie von den Brustwehren und Türmen aus und töteten viele von ihnen, sodaß die übrigen sich mit der Hoffnung begnügen mußten, die Eingeschlossenen auszuhungern.
Unterdessen hatte sich ein gewisser Manaem, Sohn jenes gefährlichen Lehrers Judas[7] des Galiläers, der einst unter Quirinius es den Juden zum Vorwurf gemacht hatte, daß sie außer Gott auch die Römer als Herren anerkennten, mit einigen seiner Anhänger nach Masada aufgemacht, hier das Zeughaus des Herodes erbrochen und außer seinen Landsleuten auch noch andre Räuber bewaffnet. Jetzt kehrte er mit dieser Horde nach Jerusalem zurück, trat an die Spitze der Aufständischen und übernahm die Leitung der Belagerung. Bald gelang es ihm, einen der Mauertürme durch Untergraben zum Einsturz zu bringen. Darauf baten die Belagerten um freien Abzug, der aber nur den Königlichen und den Einheimischen gewährt wurde. Einem Teil der Römer gelang es, sich in die Türme Hippikus Fasael und Mariame zu retten; die übrigen wurden niedergemacht. Am folgenden Tage wurde der Hohepriester Ananias aus dem Kanal des Königlichen Palastes, wo er sich verborgen hatte, hervorgeholt und von den Räubern getötet.
Nach diesen Erfolgen aber wurde Manaem, in dem Wahn, keinen Nebenbuhler mehr zu haben, ein unerträglicher Tyrann. Deshalb erhoben sich Eleazars Anhänger gegen ihn und griffen ihn mit vereinten Kräften im Tempel an, wohin er sich, geschmückt mit königlichem Gewande und begleitet von einer Menge bewaffneter Zeloten, zur Verrichtung seiner Andacht begeben hatte. Auch das übrige Volk beteiligte sich mit Steinwürfen an dem Angriff, in der Hoffnung daß, wenn nur erst Manaem aus dem Wege geräumt sei, der ganze Aufruhr ein Ende nehmen werde. Manaem und seine Anhänger hielten eine Zeitlang stand; als sie aber das ganze Volk auf sich losstürmen sahen, floh jeder wohin er konnte. Wer den Gegnern in die Hände fiel wurde niedergemacht; nur wenigen, darunter Eleazar Jairssohn, einem Verwandten Manaems, gelang es nach Masada zu entkommen. Manaem, der sich feige verkrochen hatte, wurde kurz darauf ans Licht gezogen und ebenso wie seine Unterführer unter vielen Martern getötet.
Als die in die drei Türme geflohenen römischen Soldaten nicht länger Widerstand zu leisten vermochten, erklärten sie sich bereit, ihre Waffen und sonstige Habe auszuliefern, wenn ihnen freier Abzug vertraglich zugesichert würde. Eleazar nahm diese Bedingungen an und schickte drei seiner Anhänger hin, um den Vergleich durch Handschlag und Eid zu bekräftigen. Aber kaum hatten die Römer ihre Schilde und Schwerter abgelegt, da stürzten Eleazars Männer auf sie los und stießen sie nieder. So wurden sie alle grausam ermordet bis auf ihren Führer; den allein ließen die Aufständischen am Leben, weil er versprach, die jüdische Religion einschließlich Beschneidung anzunehmen. Für die Römer hatte der Verlust nicht viel zu besagen; die Juden aber empfanden daß die Untat einen Kriegsgrund bilde, den sie nicht mehr aus der Welt schaffen könnten, und daß ihre Stadt jetzt von einem Frevel befleckt sei, für den sie Gottes Strafgericht zu erwarten hätten, zumal da die Metzelei gerade an einem Sabbat geschehen war; sie veranstalteten deshalb eine öffentliche Trauer.
(18) Am selben Tage geschah es wie durch göttliche Fügung, daß die Bewohner von Cäsarea ihre jüdischen Mitbürger ermordeten, sodaß in einer Stunde über zwanzigtausend von ihnen hingeschlachtet wurden und in der ganzen Stadt kein Jude mehr übrig blieb; denn auch die Geflohenen ließ Florus ergreifen und als Gefangene zu den Werften zu bringen. Die Kunde von diesem Gemetzel versetzte das ganze jüdische Volk derart in Wut, daß ganze Scharen über die benachbarten syrischen Dörfer und Städte herfielen, sie ausplünderten oder niederbrannten und die männlichen Gefangenen ermordeten. Anderseits ermordeten die Syrer in ihren Städten alle Juden und als Judenfreunde Verdächtigen, deren sie habhaft werden konnten, teils um der von ihnen drohenden Gefahr zuvorzukommen, teils aber auch nur, um ihre Habe an sich zu reißen.
Auch in Alexandria verschärften sich die dort seit alters bestehenden Reibereien zwischen Juden und Griechen zu blutigen Zusammenstößen, die den Kommandanten der Stadt, Tiberius Alexander[8], zwangen, die gesamte in der Stadt liegende römische Streitmacht von zwei Legionen nebst weiteren zufällig anwesenden zweitausend Mann gegen seine Volksgenossen einzusetzen. In dem IV. Bezirk wo die Juden unvermischt mit Fremden ihre Eigenart von alters her hatten behaupten können, kam es zu einer regelrechten Schlacht, die mit der Plünderung und Einäscherung vieler jüdischer Häuser und mit der Niedermetzelung von fünfzigtausend Juden endete.
Inzwischen war Cestius mit der vollzähligen XII. Legion und je zweitausend auserlesenen Soldaten der übrigen Legionen sowie sechs Kohorten Fußvolk und vier Reiterschwadronen von Antiochia aufgebrochen. Unterwegs waren noch vierzehntausend Bogenschützen und Reiter, Hilfstruppen der verbündeten Könige, auch Agrippas, zu ihm gestoßen und viele Hilfstruppen der Städte, die den Mangel an Ausbildung durch Judenhaß ersetzten. Nach der Besetzung Galiläas (19) und einem verlustreichen Gefecht bei Gibeon zur Zeit des Laubhüttenfestes traf Cestius vor Jerusalem ein. Er konnte die von den Aufständischen geräumte Neustadt einäschern. Nachdem er aber sechs Tage vergeblich versucht hatte, die Mauern der Oberstadt oder die an der Nordseite des Tempels zu erstürmen, gab er Befehl zum Rückzug. Hätte er die Belagerung nur noch kurze Zeit fortgesetzt, so würde er die Stadt wohl in seine Gewalt bekommen haben. Gott aber hatte, glaub ich, schon damals um der Frevler willen sich von seinem Heiligtum abgewandt und ließ deshalb den Krieg an jenem Tage nicht zu Ende gehn. Auf dem Rückzuge, besonders in der Schlucht von Bethoron, erlitten die von den Juden rings umschwärmten Römer und deren Bundesgenossen schwerste Verluste: fünftausenddreihundert Mann zu Fuß und dreihundertachtzig Reiter fielen, auch mußte fast das ganze Kriegsgerät und Gepäck preisgegeben werden. (20) Viele angesehene Juden aber verließen nach der Niederlage des Cestius die Stadt, wie der Seemann schwimmend das sinkende Schiff verläßt.
Als die Damasker die Niederlage der Römer erfuhren, hatten sie nichts Eiligeres zu tun als die bei ihnen lebenden Juden zu ermorden, die sie schon vorher, weil sie Verdacht gegen sie hegten, in der Sportschule eingeschlossen hatten; jetzt schlachteten sie alle, zehntausend an Zahl, in einer Stunde ab. Sie hatten aber ihren Plan vor ihren Frauen geheim halten müssen, denn diese waren mit wenigen Ausnahmen zur jüdischen Religion übergetreten.
Als die Verfolger des Cestius mit Beute beladen unter Siegesgesängen nach Jerusalem zurückgekehrt waren, brachten sie die noch römisch Gesinnten teils mit Gewalt, teils durch Überredung auf ihre Seite. Dann hielten sie auf dem Tempelplatz eine Versammlung ab, um weitere Führer für den Krieg zu ernennen. Als Oberbefehlshaber der Stadt wurden gewählt Josef Gorionssohn und der Hohepriester Anan[9]; diesem machte man es zur besonderen Pflicht, die Mauern der Stadt zu erhöhen. Eleazar Simonssohn wollte man, obwohl er die den Römern abgenommene Beute sowie viele Staatsgelder in Händen hatte, nicht an die Spitze stellen, weil man sein herrschsüchtiges Wesen erkannt hatte. Bald aber brachten der Geldmangel und Eleazars Zauberkünste das Volk dahin, daß es ihm in allem gehorchte. Für die Provinzen bestimmte man andere Befehlshaber, und zwar für Galiläa Josef[10] Matthiassohn.
Dieser ernannte für die Verwaltung seines Gebietes eine oberste Behörde von siebzig eingeborenen und angesehenen Männern sowie für jede Stadt sieben Richter zur Entscheidung geringerer Streitsachen. Sodann befestigte er eine große Zahl geeigneter Plätze und hob ein Heer von über hunderttausend Mann aus, die er alle mit alten Waffen versah. Auf eine Schulung seiner Truppen in der Weise der Römer, deren unüberwindliche Stärke auf Gehorsam und steter Waffenübung beruht, mußte er zwar verzichten; doch ernannte er der besseren Disziplin wegen eine größere Zahl von Offizieren und teilte die Soldaten ein in Zehn- Hundert- und Tausendschaften. Auch lehrte er sie das Durchgeben von Befehlen, die Trompetensignale für Angriff und Rückzug, Vorrücken und Einschwenken der Flügel usw. Ferner zeigte er ihnen, wie man Entschlossenheit und körperliche Ausdauer gewinnen kann, und führte ihnen immer wieder die straffe Ordnung der Römer vor Augen. Er könne schon jetzt ihres künftigen Gehorsams im Kriege erkennen, wenn sie sich aller Übergriffe enthielten, nämlich des Bestehlens Beraubens Ausplünderns und Betrügens ihrer Volksgenossen.
(21) Während Josefus so um die Verwaltung Galiläas bemüht war, erhob sich gegen ihn ein heimtückischer Mann: Johannes aus Gis-chala. Der hatte eine Bande von vierhundert ausgesucht kräftigen mutigen und kriegserfahrenen Männern zusammengebracht, und Josefus hatte ihm auf seine Bitte den Wiederaufbau der Mauern seiner Vaterstadt anvertraut. Durch Ölschiebungen hatte Johannes dann eine Unsumme Geld gewonnen; und nun versuchte er wiederholt, Josefus durch List und Gewalt aus dem Wege zu räumen, um selbst den Oberbefehl in Galiläa zu bekommen. Da ihm dies nicht gelang, so verdächtigte er schließlich Josefus bei den Machthabern in Jerusalem: er werde wohl bald als Diktator in der Hauptstadt einziehen, wenn man ihm nicht zuvorkomme. Daraufhin beschloß die oberste Führung, Josefus seines Postens zu entheben, und sandte, um diesem Beschluß Nachdruck zu geben, zweitausendfünfhundert Schwerbewaffnete und vier angesehene Männer, sämtlich hervorragende Redner, mit dem Auftrag, das Ansehen des Josefus beim Volke zu untergraben, ihm, wenn er sich gutwillig stelle, Gelegenheit zu geben sich zu rechtfertigen, wenn er aber seinen Posten mit Gewalt zu behaupten versuche, ihn als Feind zu behandeln. Josefus gelang es jedoch, die vier Kommissare und die Obersten der Bewaffneten in seine Gewalt zu bekommen und die bereits von ihm abgefallenen Städte wieder auf seine Seite zu ziehen.
Erklärungen
[1] Im Palast des Herodes. Vgl. V 4 letzter Absatz!
[2] So wurde nach V 4 die Oberstadt genannt.
[3] Das war eine grobe Rechtsverletzung, denn wer auch nur im Besitzt des einfachen römischen Bürgerrechts war, durfte nicht gegeißelt oder gekreuzigt werden und hatte außerdem das Recht der Berufung an den Kaiser, vgl. Apg XXII 23-29 XXV 6-12!
[4] Die Neustadt nördlich der Vorstadt und des Tempelbezirks, um die König Agrippa I. eine Mauer zu ziehen begonnen hatte; vgl. V 4 Mitte!
[5] Nach Filos Zeugnis hatte Augustus angeordnet, daß im Tempel zu Jerusalem für ewige Zeiten auf Kosten des Kaisers täglich zwei Lämmer und ein Stier geopfert werden sollten. Das Opfer wurde nach II 10 für den Kaiser und das römische Volk dargebracht.
[6] Der Obere Palast wird am Ende des übernächsten Absatzes als der Königliche Palast bezeichnet. Es handelt sich um das Palast des Herodes; vgl. V 4!
[7] Des Gründers der Zelotenpartei; vgl. Altertümer XVIII 1!
[8] Vgl. Kapitel „Die Juden unter Gajus Kaligula“, Fußnote 1!
[9] Ein Sohn des in Altertümer XVIII 2 XX 9 und mehrfach im Neuen Testament (hier mit der Namensform Hannas) erwähnten Hohenpriesters Ananus. Er war nach Altertümer XX 9 i. J. 62 n. Chr. von König Agrippa II. als Hoherpriester eingesetzt, aber wegen seines gewalttätigen Wesens schon nach dreimonatiger Amtsführung wieder abgesetzt worden.
[10] Den Verfasser dieses Berichts über den Jüdisch-römischen Krieg; im Folgenden zur Unterscheidung von seinen zahlreichen Namensvettern Josefus genannt.