Editorial

Zoom

Zeitblende

Weitwinkel

Literatur im Lichthof (8/2016) - Zeitblende

 

 

Gerhard KoflerJosé F.A. Oliver: In Memoriam Gerhard Kofler

Hier sitzen wir nun
in diesem gewaltigen alleinsein,
wo die zwiebeln unter
der erde schuften,
und warten.

Inger Christensen 

 

und ich
der im leben
allein zu sein
fürchtete
bin jetzt allein
im gedicht

Gerhard Kofler 

 

„die mit den flocken zwitschern“ oder „die plötzlichen feuer der stille“
  Ein kurzer Brief im Jänner 2016. 

Estimado, querido poeta

    womit fange ich an? Mit welchem Wort? Mit welchem Gedanken?
    Der scheinbaren Sinngrammatik, der Konvention, die Stirn bietend? Wäre
der Beginn dieses Briefes mit einer Formulierung wie der nachfolgenden
aufgehoben?
    Estimado, querido poeta: ich spreche an.

    Nein, nicht gegen etwas oder irgendjemanden! Schlicht und einfach die
aufbegehrende Wendung Ich spreche an: Dich! 
    Verrückt, oder? Einen, der tot ist, anzusprechen. Indem man ihn
anschreibt. Adresse unbekannt. Zustellerin: das Meer. Poetischer verortet, „Das
Gedächtnis der Wellen.“
    Kommt fast einer seltsamen jahreszeit gleich. Findest Du nicht? Ein
ewiges Warten, auf das, was nicht zu definieren, nicht zu fixieren ist.
    „finché vivo / attendo“ lese ich in einem Gedicht aus Deinem Nachlass:
„solange ich lebe / warte ich“.

Dich spreche an, Gerhard. Geschätzter Dichter. (Es ist nicht ein Vorsprechen. Das hätte eine andere Qualität; wäre eher von der erwartungsvollen Beschaffenheit einer wie auch immer gearteten Verabredung. Da fällt mir auf: welch Reichtum! Diese Wind- und Wetterkonstruktionen, dieser Wellengang der deutschen Sprache. Ich mag sie, die sich verschiebenden, sich mutierenden Perspektiven durch die vielgestaltigen Vorsilben! So wie Du Dein Italienisch mochtest: al „dunque / tu sei italiano?“ / mi viene / un smorzato“ und zum Schluss des Gedichtes „Sì“ lässt Du Deine ganze Herkunft klingen. Dein italienisches Ja. „Ja, ich bin Italiener.“

Ich richte also das Wort an Dich, weil ich im Grunde doch nur nach-sprechen kann. Jene Verse, die Du zurückgelassen hast. Den Versen nachsprechen. Ein inspirierender Akt.

Don Poeta, seit über 10 Jahren – darf ich das sagen – wartest Du nun nicht mehr...
    Ja, Leben heißt...WARTEN. Warten auf ... Wie wahr. Und nur manchmal vergessen wir das Warten. Ereignet sich dann die Epiphanie? Das Geheimnisvolle, nicht Greifbare der Poesie? Esperar bedeutet im Spanischen übrigens auch „Hoffen“. ¡Espero que estés bien! Ich hoffe, dass es Dir wohl ergeht. Esperanza. Manch ein Schiff trug diesen Namen.

Kofler, Du bist, so glaube ich, erlöst. „Erlösen“ – auch so ein ungebändigtes Wort. Ein weiteres, mächtiges! Mein Gott! 
    Es ist gewagt, was ich jetzt formuliere. Aber ich sage es dennoch. Deiner Statt warten nun Deine Gedichte. Könnte doch sein. Oder? 
    Einst meißelte mir jemand einen ungeheuerlichen Satz ins Gedächtnis und ich muss ihn deshalb immer wieder zitieren. „Die Würde eines Gedichtes hängt unmittelbar mit der Würde des Dichters zusammen.“ Das ist (eine) Ermutigung. 
    Sie warten, und das Schöne dabei ist, sie haben es nicht eilig. Ein beruhigender Gedanke. Unruhe streut allenfalls die Antwort auf die Frage, worauf sie warteten. Denn sie warten ganz bestimmt. Besonders auf eines. Darauf, dass sie gelesen, lautgesagt, nachgesprochen werden. Das schafft Präsenz, Kofler.
    Ja, Deinen Verse folgend, sie rezitierend und – Du bist da. Mir geschieht das oft. Und nicht nur „am ende / eines endlos / rätselhaften / jahres“. (Soeben haben wir es der Geschichte überlassen, das Jahr 2015. Verlassen haben wir es, von allen Sinnen, von allen guten Geistern verlassen, und nun stehen wir in der Verantwortung. 
    Welches Gedicht Du wohl heute schreiben würdest?

10 Jahre sind vergangen, lieber Gerhard und Deine Verse sind ohne Alter, ohne Zeitgefängnis. Es sei denn man nähme die alte Rechtschreibung der deutschen Sprache als Maßstab der Vergänglichkeit und als Dokument der Schreibregeln. Aber das wäre eine kleinkarierte Fußnote. Mehr nicht.

Wie ich beispielsweise nachfolgende Zeilen von Dir liebe. Das Zeit-Los tragend und zeitlos in einem. Sie sind von verwundender Aktualität. 

Auf einem Stein

merkwürdig daß
viele schöne länder
derzeit
schreckliche
regierungen haben

aber noch
merkwürdiger
daß derzeit
viele schreckliche
regierungen
schöne länder haben

merkwürdig
daß dies
ein gedicht
sein
könnte

(schon wieder)

 

Ich schreibe Dir und Du bist gemeint, poeta.
    Du mit „deiner / küsten- / seele“ und ich, der nachschöpft, der von dem zehrt, was gewesen ist. Auch ich, (gesegnet) mit „jenem letzten unerbittlichen fürwort“. Auch ich ein Zurückgebliebener. Und frage mich trotz dieser oder vielleicht sogar mit dieser Erkenntnis, was es sein könnte, dieses unerbittliche Fürwort. Wer steht für wen? Was wofür? Du? Ich? Er sie es? Wir? Besitzanzeigend oder reflexiv? Gar ein Pronomen der Fragen(n)? Weshalb? Warum? Wozu?
    „Pronombre“, sagt die spanische Sprache – für einen Namen stehend. Eine eigene Wortart.
    Wie verhält sich die Spannungsgeschichte zwischen „Wort“ und „Namen“? Ich rufe Dich beim Namen. Ein schönes Spiel, Gerhard. Nevertheless! Und müsste doch eigentlich ausrufen „¡Qué más da!“ Denn ich bin im Augenblick in Spanien zu Gast.
    Stell Dir vor: am Meer. Genauer gesagt irgendwo in Randspanien – auf Mallorca. Vielleicht brauche ich dieses nie endende Ankommen, den Wellenbruch, der nicht zu beschreiben ist. Das Felsenzerklüftete der costa und das Gefühl, das Meer auf der Haut zu spüren. Die mediterrane Geographie, ihre Menschenlandschaften. Ein Gefühl wie eine Begierde, um Dich anschreiben zu können und nicht das „windstill statische“. Du verstehst?
    Ja, ich weiß, Du hättest verstanden. Und Du hast Recht mit dem, was Du wusstest. Es stimmt: Wer das Meer mit seiner Kindheit in sich trägt, verliert sich nicht im Grau.
    Gestern und heute diese wundersamen, au fond nicht zu fassenden Augenblicke, in einem Hafenrestaurant an einer Winter-Mole in Palma. Im Schutze eines verglasten Erkers sitzend, also windgeschützt. In der äußersten Spitze des januarkühlen Restaurants. Wein vor mir und ein paar tapas. Papier, einen Stift und Deine Bücher. Das Meer vor und unter mir. Es war, als triebe ich ohne Unterlass mit den Wellen ein – einstranden... gibt es dieses Wort? Es war, als spülte es mich ständig von neuem davon. Ins Offene. Fortgestrandet. Und dasitzend dennoch. Mich ganz und gar dem Meer und seiner Intensität überlassend, das so unbeteiligt ist an allem. Und das ist das Versöhnlich für den, der gerne Boden unter den Füßen hat, ich dachte unwillkürlich an Deinen Trinkspruch. Du erinnerst Dich?
    „trinken wir / hier und jetzt/ auf unsere / rückkehr // auf die ungeheuer / und die tage / im meer“.
    Ein Glas Rotwein in Ehren. Schon mittags. Du hättest nicht „Nein“ gesagt. Und wir hätten geschwiegen. Poesie pur. Denn über Gedichte haben wir nie gesprochen. Das haben wir anderen überlassen.

Ich war in Deinen Gedichten, vertraute der Lektüre und atmete Meer. Simplemente el mar, la mar. Vor allem auch in Deinen für mich neuen Texten, die ich nicht kannte. Die Du hinterlassen hast und die heuer in einer Trilogie veröffentlicht worden sind. In einem Schuber. Hommage und Adelung der Erscheinung. „Das Gedächtnis der Wellen“. In drei Bänden. Eine sorgfältig erarbeitete Ausgabe. Ich freue mich sehr darüber.

10 Jahre, Gerhard. Es gibt so viele Tote mittlerweile, die meinen Weg säumen. Aber vielleicht ist „säumen“ ja nicht der richtige Ausdruck, wenngleich – schauen die Toten zu? Wissen sie um uns? Persönlicher ausgedrückt, wissen sie auch um mich, um die Gewänder, die auch ich trage? Wie groß, in welchen Großbuchstaben schreibt man das Pronomen für den Tod? Ist er männlich? Weiblich? ¡Qué importa! Der Tod, die Todin. Er oder sie? (Die unerbittlichen Fürwörter?) Es? Heute Vormittag entdeckte ich den Begriff „Posthumanismus“. Es, Tod? Der Tod demnach sächlich? Ich weiß, wir könnten hier am Meer trefflich darüber diskutieren. Wir, die Dichter und die Meermänner.
    Wie schön Deine Zeilen vom Dichter und vom Meermann: „seemann oder dichter / das spielt keine rolle / jedes gewand / ist mit einsamkeiten / gefüttert“.
    Es ist als hörte ich Dich, den Meermann, den Dichter; den, der um sein Gewand weiß. Ein Gewand, das ja immer mehrere Gewänder ist. Oder nicht? Die vielen Toten, Gerhard. Ja, und du bist einer unter ihnen. Ich bin einsamer geworden, Gerhard. Nicht allein, einsamer. Auch das ist ein Gewand. Eins mit „luftigem wellengang“.

Gerhard, ich will Dir ein paar Zeilen schreiben und komme über den Anfang nicht hinaus. Ich sollte über Dich schreiben, nicht an Dich. Und muss nun doch die direkte Ansprache wählen. Als seist Du hier. Ich komme nicht umhin, Dir einen Brief zu schreiben. Einen Brief an den mir großen, unbekannten Ort – irgendwo, irgendwohin. Und keine postalische Anschrift zur Hand. Du hast es so fein formuliert, dieses Gefühl beim Schreiben:
    „ein gewisses / wohl- / gefühl / um sich / hinzusetzen / und zu schreiben / braucht es (...) und ich würde / sogar sagen / einen gewissen / appetit / und dazu / schließlich / den meeresblick“.

Ich habe diesen Meeresblick. Jetzt, da ich mich an Dich wende und versuche mich in der „gedrehten Gischt“ (ein Bild von Ilma Rakusa) zu orientieren und weiß doch genau, dass ich niemals eine Antwort erhalten werde, weil Du mir nicht mehr antworten kannst. Zumindest nicht auf eine Art und Weise, die landvernünftig nachvollziehbar und auf der Höhe der augenblicklichen Seins-Diskurse wäre. Seltsam eigensinnig ist das. Und verrückt. Aber das habe ich ja bereits zugegeben.

„Kofler, Kofler!“ Ich denke oft an Deinen Nachnamen. Ich wusste gar nicht, dass Du über ihn ein Gedicht verfasst hattest. Wie schön. Habe es erst jetzt entdeckt. In der dich würdigenden Trilogie mit Deinen Nachlass-Gedichten... 
 

„erst wieder
am flughafen
dort
fand ich sie
die Cofler-
schokolade
und wie damals
mein vater
hab ich sie
meinem sohn
mitgebracht

schokoladen-
tradition
in einer
familiengeste
die uns
den steinernen
namen(1)
auf der zunge
zergehen läßt“

 

Dich mit „Kofler“ anzusprechen war uns beiden vertraut und mittlerweile bist Du mir in der Doppelung Deines Nachnamens zum geflügelten Wort geworden.
    Zum ersten Mal hatte ich Dich in dieser freundschaftlichen Zärtlichkeit und Bewunderung auf einer Buchmesse so genannt. Die zugeneigte Ermahnung der spitzbübisch-komlizenhaften Nachsicht. Damals in Frankfurt, als wir uns nach einem wunderbar heiteren Abend schon tief in der Nacht vergnügt mit einer Umarmung verabschiedeten. Ich erinnere mich noch gut daran. Ausgelassen war´s. Fröhlich. Und guten Rotwein hatten wir genossen. Du, Renk und ich. Wie Du ins Taxi stiegst. Grinsend und italienisch sprachst, lachtest. Und der verdutzte Taxifahrer, der nicht so recht wusste, wie und wohin, weil wir ja auch noch ums Auto standen und ebenso lachten. Uns hineinsteigerten ins Lachen. Wie man mir nichts dir nichts einfach einen Lachkoller bekommt, wenn die Situation plötzlich zum Slapstick wird. Du mit Deiner Aktentasche – eine durchaus distinguierte Erscheinung – ein Dichter im dunkleren Jackett und verschmitzt schmunzelnd. „Ins Hotel! Einfach nur ins Hotel!“ hattest Du freundlich und auf italienisch gesagt. Wo das denn sei, fragte der verdutzte Taxifahrer. „Ja, hier in Frankfurt!“ und Du lachtest weiter. Aus vollem Herzen. Wie ein Junge, dem soeben ein Streich gelungen war. Und so lapidar und selbstverständlich Deine Antwort aus Dir herausgesprudelt war, so irritiert zuckte der Taxifahrer mit seinen fragenden Schultern. Es war kein weiterer Kommentar vonnöten. Auch er lachte schließlich.
    Vielleicht würdest Du jetzt, wo ich das erzähle, auch wieder lachen. Verschmitzt grinsen, dann lachen. So wie ich Dich kannte, wenn sich Augenblicke ergaben, die den Schelm brauchten. Oder den Narren, der... Ich könnte Dich schon wieder mit Deinen eigenen Versen (fast hätte ich geschrieben „Versehen“) umarmen. Noch lieber würde ich das natürlich realiter tun. Es ist leider nicht möglich. Nicht in der üblichen Form. Das wäre dann wirklich ein verlorenes Unterfangen. Es wäre so als müsste man die Sandzeichenschriften oder angerichteten Felsbruchalphabete des vorbrandenden Meeres in seiner An- und Abwesenheit greifen. Im Augenblick sämtlicher Abschiedsgeheimnisse etwas einholen wollen, was man nicht einholen kann. Ich könnte lediglich die imaginären Segel streichen und „Untergang“ schreiben. Oder um es in ein paar Worten desjenigen zu sagen, der vor ein paar Wochen auch von uns ging – noch ein toter Dichter – Dante Andrea Franzetti: „Das Notieren ist das provisorische Abdichten eines Lecks bei einem Schiff, das untergehen wird. Alles ist provisorisch, und alles vergeht, aber in der Zwischenzeit können wir den Augenblick festhalten.“

Ich bewahre die Weinflasche immer noch zu Hause auf. Von uns dreien signiert. Von Renk, Dir und mir... Es steht in meinem Bücherregal in Hausach. Dort, wo Du ja auch zu Gast warst. Beim LeseLenz. Grandios war´s. Legendär. Robert Renk spricht heute noch von der „legendären Kofler-Lesung“. Im Gasthaus „L´Italiano zum Löwen“. Vor dem Tresen. Auf einem altersschwachen Barhocker sitzend und lesend. Noch schnell organisiert. Weil so viele Menschen zu Deiner Lesung gekommen waren. Improvisiert das Ganze. Damit man Dich auch vom Nebenraum aus sehen konnte. Auf Deutsch und Italienisch. Du hattest Dich von Text zu Text in Trance gelesen. Und wie sich dann irgendwann zu vorgerückter Stunde der Barhocker abzusenken begann. Mit jedem Deiner Gedichte um ein paar Zentimeter nachgab. Du wurdest immer kleiner. Nicht Deine Gedichte. Sie füllten den Raum immer intensiver. Natürlich hattest Du bemerkt, dass die Hockerkonstruktion seinen Geist aufgab. Quasi ins Bodenlose verschwinden wollte. Als sei auch er von Deiner Lesung völlig vereinnahmt gewesen und in sich versinkend versunken. Du grinstest nur. Von Abwärtsruck zu Abwärtsruck. Die Zuhörer verfolgten gebannt das Spektakel. Du grinstest nur, nahmst zwischendurch immer wieder einen Schluck aus dem Rotweinglas und erhobst Deine Stimme immer lauter, immer klingender, immer gewaltiger. Keiner konnte sich Deinem Italienisch entziehen. Da war nicht die geringste Spur einer Irritation in Dir, obwohl, Dein Schmunzeln verriet es, obwohl Du genau spürtest, dass es unweigerlich, wenn auch sanft, hinabging. Ich hatte das Gefühl, dass Du glücklich warst. Ganz in Deinem Element. Es war ein Bild der gerufenen (oder ungerufenen) Götter der Poesie. Du wie immer im Jackett; Deine Gedichte rezitierend und zusehends kleiner werdend. Unsichtbarer und – ja, das war die Stimmung, Deine Präsenz wurde immer raumfüllender, immer größer. Groß.
    Hinterher waren Deine Bücher alle ausverkauft. Du hattest „die wörtchen“ hör- und sichtbar klingen lassen.
    Ich glaube Deine dicke „Gedicht-Bibel“ steht in Hausach seither in jedem zweiten Haushalt. Als unvergessliche Krönung der jeweiligen LeseLenz-Bibliotheken, die sich in manchen Familien in den vergangenen 18 Jahren angesammelt haben.

¡Gracias, Kofler! Ich empfinde einfach nur Dankbarkeit und uneingeschränkt Freude. Immer wenn ich an Dich denke. Wie „mondlicht / zwischen / den kiefern“. Ganz so, wie Du es Dir gewünscht hattest, und deshalb habe ich heute den Tag für den einen, glücklichen Augenblick in diesen Brief, der eigentlich gar kein Brief werden sollte, nicht vertan. Er wurde zu einer kleinen Feier. Hier am Meer. An diesem „unermesslichen ort“. So wie Du es uns aufgetragen hast:

 

Einfache Einladung

seid nicht traurig
wenn ich
an einem festtag
sterben sollte

seid nicht traurig
deswegen
lebend
feierte ich
und daher
möchte ich
als toter
keine festlichen
erinnerungen wegnehmen

mich in erinnerung
meine lieben
feiert

„Kofler, Kofler!“ Ich sitze am Meer. Deinem Meer. Der Rotwein schmeckt mir, und ich vermisse Deine Stimme. Deinen erhabenen Tonfall beim Lesen. Dein Lächeln, Dein wissendes Grinsen und habe plötzlich das Gefühl, irgendeine Verschmitztheit müsste, muss doch gleich noch passieren. Hier am Meer. Und urplötzlich habe den seltsam unverhofften Eindruck, dass der Stuhl auf dem ich sitze, abzusinken beginnt. Geradezu ins Wasser. Ins Meer. Unaufhaltsam. Und ich muss schmunzeln. Vielleicht liegt es ja am Wein. Vielleicht aber auch am magisch verführerischen „Gedächtnis der Wellen“. Wer weiß. Oder vielleiht liegt es ja einfach nur am letzten Fürwort. Aber – lassen wir das auf sich beruhen. Das Meer ist soeben sanft geworden.

Con un abrazo fuerte
José

 

P.S. Während der Rückfahrt auf den Kalvarienberg in Pollença, wo ich im Norden der Insel für ein paar Tage mein Domizil bezogen habe, schlichen sich, den „Kalvarienkofel“ hinauffahrend, so heißt der Berg, Calvario, ein paar Zeilen ein. Für Dich, Meermann zu Lande... 

notat für Gerhard Kofler

tanzt der letzte
jasmin
oder der erste?
oder der immerwährende
im grünbehausten
an einem 6. Jänner? Die idee? Und
was ist
mit der übriggebliebenen rose
die dem wind trotzt? Stürmisch
ist er
wie das meer. In aufruhr. Wer

will
seine sprache
verstehen. Ich lese
Kofler! Jemand sagt
„Berg“ und „Spitze“. Das meer
zur hand
in einer flaschenpost
der fremden stunden, die
so nah, so nah
  

----------------
 
(1) Kofler von „Kofel“ – Berg, Fels, z.B. der Lankofel (Sassolungo). Doch vergessen wir nicht en Buchstaben „kof“ aus dem hebräischen Alphabet in der Tradition der Aschkenazen, welcher dem deutschen „K“ und dem italienischen „kappa“ entspricht, d.h. wir sind auch „die Leute mit der Kappa“. Es möge eine Zauberkappe sein.

nach oben  


 

Reimmichls Volkskalender 2015
94. Jahrgang
Redigiert von Hans Augustin
Innsbruck
ISBN: 978-3-7022-3346-4 

Barbara Hoiß und Anton Unterkircher über Reimmichls Volkskalender 2015/2016

Almanach, ein geschenktes Jahr

Alle sitzen um den Küchentisch, die Teller sind leer gegessen und das Gespräch kommt auf die Arbeit in den nächsten Monaten. Wann haben wir letztes Jahr die obere Wiese gemäht? Die Mutter rutscht mit dem Sessel zurück, zieht die Tischschublade heraus und greift ohne hinzusehen nach dem obersten Stück, das in der Lade liegt. In der Hand hält sie den Kalender, blättert nach und berichtet über Tag und Wetter. Auch in Zeiten der computerunterstützten Landwirtschaft, in Zeiten, da die meisten Menschen unabhängig von Wind und Wetter, von Himmelsgestirnen und Jahreszeiten in Büros und Fabriken arbeiten, greift man für den Hausgebrauch nach dem Kalender. Es könnte irgendein Almanach sein, wichtig sind die Wochen- und Feiertage, die Mondphasen und die Geburts- und Namenstage. Und doch kommt es auf die Geschichten und Informationen an, welche den Jahreskreis begleiten. Sie sollen unterhaltsam und informativ sein, sich mit Zeitströmungen auseinandersetzen und doch eine etwas längere Gültigkeit aufweisen als die Tagespresse. Vor allem sollen sie sich auch mit dem Lebensraum der Leserschaft beschäftigen. Der Reimmichlkalender war und ist ein solcher Almanach.
Der Volkskalender erscheint erstmals 1920. Die erste Ausgabe trägt noch den Namen Tiroler Kalender, erst 1925 wird das endgültige Aussehen festgelegt. In diesem „Gwandl“ wie Sebastian Rieger, auch Reimmichl genannt, selbst es bezeichnet erscheint der Kalender bis heute. Hatten Almanache oder Kalendarien in ihren Anfängen vor allem die Vorausberechnung der Stellung von Sonne, Mond und Planeten zum Inhalt, erfuhren sie bald eine Erweiterung um Sprichwörter, um allgemein Wissenswertes und um belletristische Texte. In einem katholischen Kalender, wie ihn Reimmichl anlegt, dürfen auch biblische und kirchliche Inhalte nicht fehlen.
Um das einfache Volk zu erreichen, greift Rieger auf das Medium Kalender zurück. Er reiht sich damit in eine lange Tradition ein: Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Johann Christoph Beer bis hin zu dem wohl bekanntesten Verfasser von Kalendergeschichten, Johann Peter Hebel.
W.G. Sebald spricht in seinem Logis in einem Landhaus (S. 22) von Hebels Kalendergeschichten als von emotionalen Werken. Und solche emotionalen Texte erwarten sich wohl auch die Leser des Reimmichlkalenders.
Heute zeichnet Hans Augustin für den Inhalt des Kalenders verantwortlich. Ihm gelingt es immer mehr, den Almanach in der heutigen Zeit zu verankern. Das beginnt schon beim Schriftbild, bis 2014 wurde der kalendarische Teil in Fraktur gehalten. Aber es geht weit über das äußere Bild hinaus: Ruhte man sich lange Zeit darauf aus, die Geschichten des Urhebers wieder und wieder abzudrucken, sind nun auch andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller am Wort. Autorinnen und Autoren mit einem Bezug zu Tirol wie Georg Trakl, Josef Leitgeb und auch Bernhard Aichner, Hans Haid, Maridl Innerhofer, Annemarie Regensburger, Anna Rottensteiner, um nur einige zu nennen, sind mit ihren Texten vertreten. Hervorzuheben ist zum Beispiel die Geschichte Der rote Mantel von Helene Flöss aus dem Kalender von 2013, sie geht sprachlich und konzeptionell weit über eine simple Weihnachtsgeschichte hinaus:

Ich schlief lange nicht ein, grübelte, wie ich den kardinalroten Mantel loswerden konnte. Wie ließ sich ein Mantel im Winter verlieren? Zum Zerreißen war der Wollstoff zu dick. Mit der Schere nachzuhelfen hätte mich sofort verraten. Verbrennen? Ein vergeblicher Versuch. Die Kerzenflamme, die ich an den Mantelsaum hielt, spritzte ein bisschen, es stank abscheulich, die oberflächlichen Härchen bekamen einen dünnen, bräunlichen Schleier, aber der Stoff brannte nicht, glomm nur kurz und erlosch. (Reimmichls Volkskalender 2013, S. 206)

Experten und Wissenschaftler diskutieren Fragen, die in der Lebenswelt vieler Tirolerinnen und Tiroler eine Rolle spielen: Was essen wir? Welche Architektur umgibt uns? Wie fügt sich die Tradition in unser heutiges Leben ein? Wie gehen wir mit dem Land um, in dem wir Leben? Augustin spricht im Vorwort zu 2015 davon: „Es ist nichts anderes, als Themen für eine qualifizierte, unterhaltsame Konversation zur Verfügung zu stellen.“ (S. 56) Dazu kommen Berichte aus Kunst und Kultur, aus Film und Literatur. Für einen Blick auf die Historie von Land und Leuten ist ebenfalls gesorgt. Dabei ist der Umgang im Gegensatz zu früheren Ausgaben durchaus kritisch. Die Rolle Tirols im Ersten und Zweiten Weltkrieg wird ebenso verhandelt wie der zerstörerische Eingriff in die Landschaft. Welche Auswirkungen haben Massentourismus und hohes Verkehrsaufkommen, der rücksichtslose (manchmal sogar verfassungswidrige) Ausbau der Liftinfrastruktur oder der Brenner-Basistunnel? In allen Bereichen setzt der Herausgeber auf kritische Stimmen mit sachlichen Argumenten. Möchte man eine Tendenz herauslesen, so lässt sich ganz im Sinne der Rücksicht auf die Welt, die uns anvertraut wurde, von einer Hinwendung zu einem aufmerksamen, besonnenen Leben im Umgang mit Mensch und Natur sprechen.

Eine wesentliche Frage ergibt sich, betrachtet man das Hauptanliegen des Kalenders. Immerhin vertrat Reimmichl einen sozial engagierten Katholizismus. Er setzte sich in seinen Erzählungen für die Armen ein. Freilich hatten diese oft fromm und herzensgut zu sein. In anderen Punkten wie zum Beispiel der gesellschaftlichen Akzeptanz anderer Lebensmodelle als die der klassischen Familie mit Vater, Mutter und Kindern stieß der Leser auf eine konservative Auffassung. Die Rolle des katholischen Glaubens wird im Kalender von Sebastian Rieger als tragende Säule des Alltags der Menschen gehandelt. Der von Augustin gestaltete Kalender zeigt sich immer noch eindeutig dem gelebten Katholizismus verschrieben. Allerdings kann man von einer aufgeklärten Einstellung zur Religion sprechen. In den letzten drei Jahrgängen findet man unter der Rubrik „Religion und Glaube“ Artikel über Hildegard Burjan, Papst Franziskus, Bischof Erwin Kräutler und Abbé Pierre. Mehr als diese Berichte zeigt aber ein Artikel von 2015 „Sie brauchen eine besondere Liebe...“ über eine Justizanstalt für Jugendliche, welchen Umgang sich der Kalender mit den Menschen im Land wünscht. „Hier gilt das Prinzip Hoffnung, der Glaube an die Veränderbarkeit des Menschen zum Positiven. Und so soll es auch bleiben.“ (S. 118) Wohin sich der Kalender im Weiteren wendet, welche Rolle er der katholischen Führung einerseits und dem glaubenden Einzelnen andererseits zuweist, wird sich noch zeigen.

Erfreulich ist der frische Wind, der durch die Blätter des Almanachs weht, allemal. Und wegen des einen oder anderen schönen Textes lohnt es, den Kalender immer wieder einmal aufzuschlagen - ein Geschenk fürs ganze Jahr.

Barbara Hoiß


 

Reimmichls Volkskalender 2016

 

Reimmichls Volkskalender 2016 (Innsbruck: Tyrolia)
Reimmichls Volkskalender 2016 (Innsbruck: Tyrolia) 

Reimmichls Volkskalender 2016 (Bozen: Athesia)
Reimmichls Volkskalender 2016 (Bozen: Athesia) 

 
Wer legt schon je die zwei Ausgaben von „Reimmichls Volkskalender“ nebeneinander? Wie viele wissen überhaupt, dass es seit 1949 zwei verschiedene Ausgaben des bekanntesten Tiroler Volkskalenders gibt? Sie ähneln sich wie zweieiige Zwillinge: Bei näherem Hinschauen ist es nicht schwer, die zehn (?) Unterschiede auszumachen. Die offensichtlichen Unterschiede auf dem Umschlag setzen sich auch im jeweiligen Kalenderinneren fort. Während die Nordtiroler Ausgabe (Innsbruck: Tyrolia, 240 Seiten) einen namentlich genannten Kalendermann hat, nämlich seit 2012 Hans Augustin, grüßt aus der Südtiroler Ausgabe (Bozen: Athesia, 288 Seiten) immer noch wie zu Reimmichls Zeiten „Der Kalendermann“. Nach einem Impressum, der eine/n Redakteur/in nachweist, sucht man vergebens.

Das Kalendarium, das seit dem ersten Erscheinen im Jahr 1920 immer ein Herzstück des Reimmichlkalenders war, ist in der Südtiroler Ausgabe (nur mehr) 26, in der Nordtiroler Ausgabe immerhin 48 Seiten stark. Mag sein, dass heute die Angaben zum Kirchenjahr, zu Brauchtum und Wetter auch anderswo zu finden sind, aber damit wären ja gedruckte Kalender prinzipiell obsolet. Was sie offenbar nicht sind, denn wenn sich die Kalender nicht verkaufen würden, würde man sie nicht drucken. Schon gar nicht zwei verschiedene Ausgaben in der vielbeschworenen Europaregion Tirol.

Interessante Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur Tirols fehlen in beiden Ausgaben nicht. Auffallend ist der Unterschied bei den literarischen Beiträgen. Dass in einem Reimmichkalender Reimmichl-Texte nicht fehlen dürfen, liegt auf der Hand. Die Südtiroler Ausgabe füllt zur Hälfte die umfangreiche Erzählung „Der Tuifelemaler“ (1924 als Buch erschienen). Ob dieser Text zur Gänze abgedruckt ist oder nur in einer Auswahl, erfährt man leider nicht. Die Nordtiroler Ausgabe begnügt sich mit zwei kleineren Erzählungen Reimmichls: „Der Rosshandel“ und „Die Thomasmarktfahrt“ (beide gar mit Quellennachweis).

Die Südtiroler Ausgabe enthält Mundartgedichte von Anna Lanthaler, Heidi Schrott Plunger, Helene Knollenberger Hofer und eine Weihnachtsgeschichte von Gisela Brix.

Hans Augustin, selbst Schriftsteller, hat die literarische Seite der Nordtiroler Ausgabe im Vergleich ziemlich ausgebaut. Sie enthält Texte von Toni Aichhorn, Reinhold Stecher, Ulli Scarletti, Stefan Abermann, Hans Aschenwald und Judith W. Taschler. Hervorzuheben sind die Gedichte von Scarletti, der Text „In 80 Navis um die Welt“ von Abermann und „Die Schläue des Anfangens“ von Aschenwald. Gerade dieser Text wird sich dem gemütlichen Geschichtenkonsum auf der Ofenbank energisch widersetzen. Erweitert wird der literarische Teil durch ein Interview mit der Schauspielerin Julia Gschnitzer und Martin Sailer erzählt „Vom Hören & Spielen“. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Südtiroler Ausgabe verwiesen, auf den Beitrag von Stephan Pfeifhofer über den Ende 2014 verstorbenen bedeutenden Theatermann Franco Marini. 

Anton Unterkircher

nach oben