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 Literatur im Lichthof (8/2016) - Zoom

 

 
Christoph W. Bauer
: stromern
. Gedichte
Innsbruck: Haymon 2015

von beruf ein vagant

© Haymon, 2015Christoph W. Bauer zeigt Gesicht in seinem neuen Lyrikband „stromern“. Das ist zumindest einmal der erste Eindruck, den man bei dem bei Haymon erschienenen Band gewinnen könnte: Der Autor blickt einen vom Buchcover aus direkt entgegen. Aber das Buchcover soll hier nicht weiter interpretiert werden, wesentlich ist die Frage, welches Gesicht die Gedichte zeigen. Diese sind nämlich überwiegend überraschend direkte Ansprachen, die mit einer klaren Sprache auskommen, sich hin und wieder der Lust am Reimen nicht entziehen und mit schelmischem „Vagantenahoi“ grüßen. Das titelgebende „stromern“ ist Grundprinzip dieses Bandes. „stromern“, das meint die Beschaffenheit des Wassers und seinen unaufhaltbaren Fluss genauso wie das selbstbestimmte und uneingeschränkte Unterwegssein. Eine Haltung, in der sich jener Vagant spiegelt, der sich schon in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ auf die Suche nach Land machte: „ ein vagant, der nichts hat, den nichts hält“. Christoph W. Bauers lyrisches „Ich“ stromert aber keinesfalls ohne Ziel, es ist kein weltabgewandter Herumtreiber, vielmehr ist es ein kritischer Beobachter, ein empathischer Augenzeuge, der die Gegenwart einfängt ohne die Vergangenheit aus dem Blick zu verlieren, es dabei aber auch versteht, sich ab und zu einfach nur treiben zu lassen.
Inspiriert und immer wieder auch zum Stehenbleiben animiert wird Bauers Ich von den Dichterkollegen der Vergangenheit, die es zeitweise auch an weniger poetischen Orten, wie z.B. vor dem Pissoir heimsuchen: „noch nie dachte ich beim pinkeln an dich / blinder sänger aber die zeiten haben sich / geändert […] / las ich nur diesen spruch über der pissrinne / einer kneipe in krakeliger schrift stand dort / ich bin kein berliner ein grieche bin ich. (S. 31)
Homer, der „blinde sänger“ ist nur einer von vielen Dichterpersönlichkeiten der griechischen und römischen Antike, die C. W. Bauers lyrisches Schaffen nicht nur in diesem Band begleiten. Seien es nun die Dichterin Sappho, der Versdichter Ovid oder der römische Dichter Catull, sogar dessen Geliebte Lesbia – sie alle sind den Leserinnen und Lesern von Bauers Gedichten längst nicht mehr unbekannte ReferenzdichterInnen und DialogpartnerInnen. Als Lyriker fasziniere ihn die Lyrik der Antike genauso wie der Punkrock, erklärte C. W. Bauer einmal vor einer Schulklasse. In einem amüsanten Kommentar, erschienen in der Zeitschrift „The Gap“ zum 50. Geburtstag des Sängers der Punk-Rockband „Die Toten Hosen“ Campino, erzählt der Autor von dieser Begegnung und schreibt: „Es sei die ungeheure Dynamik, die mit dem ersten Takt eines Liedes oder dem Eingangswort eines Gedichts entfacht werde, der vorantreibende, mitreißende Rhythmus, der kein Zurück kenne“.(1)
Takt, Versmaß und Strophenaufbau sind lyrische Stilmittel, die Bauers Gedichte durchaus mit jenen der Antike vergleichbar machen. Die präzise und durchstrukturierte Form gibt den Gedichten Spannung und Dynamik, verleihen dem Inhalt jenen Ausdruck und jene Reibungsfläche, die notwendig ist, um gehört zu werden. Bauers Lyrik ist – so wie das Gedicht in seiner Urform – gemacht für den Vortrag. Wer den Autor schon einmal lesen gehört hat, der wird dies bestätigen.
Man ist geneigt festzuhalten, C. W. Bauer hätte die ihm eigene lyrische Ausdrucksform gefunden. Doch wie lässt sich die Sprache der Gegenwart darin festhalten? Welche Sprache „spricht“ unsere Zeit momentan überhaupt? „Wer denkt bei der Insel Lesbos heute an eine wunderbare Dichterin?“, fragte Bauer kürzlich in einem Gespräch, und wies darauf hin, dass Worte und Bilder, wie z.B. auch das Meer, in einer Zeit, in der tausende Flüchtlinge auf der griechischen Insel, die einst von der Dichterin Sappho bewohnt wurde, stranden, in der Literatur überdacht und von deren metaphorischen Überladung entfesselt werden müssten, um sie, nach allem was passiert ist, wieder neu deuten und erfinden zu können.
„ich mag nicht über kastanien dichten / obgleich ich kastanien so mag / will sie nicht mit metaphern gewichten / mit triftigem poetikverschlag“ (S. 129), mit diesen Zeilen beginnt ein Gedicht im vierten Teil des Bandes. Ein Gedicht, das nicht nur vom Unbehagen zeugt, eine Sprache zu verwenden, die sich hinter aufgeladenen Bildern versteckt, sondern auch davon spricht, jenen das Wort nicht zu überlassen, die Sprache „in dummgeschwätzter zeit“ (so heißt es in einem anderen Gedicht, S. 53) populistisch, selbstherrlich oder unreflektiert einsetzen: „und chapeau vor den strengeren richtern / mich friert ich bin vor einsicht ganz starr / schaut her wie meine augen irrlichtern / es zieht vor euch den hut nur ein narr“ (S. 129).
„Nichts mehr gefällt mir. / Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte?“ fragte Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht „Keine Delikatessen“ und stellt damit ähnliche Fragen, wie C. W. Bauer an die Sprache. Die Flucht vor dem „phrasenteufel“ (S. 73) treibt auch C. W. Bauers Ich dazu das Land zu wechseln und schreibt Bachmanns Gedicht fort: „nichts mehr gefällt mir muss / mich auf den weg machen / andere sprache anderes land. (S. 79)
„Je suis en route“ - ich bin unterwegs, mit diesem Satz beginnt der Autor jede seiner Kolumnen. Sie handeln von seinen monatlichen Reisen nach Paris, die er seit ca. 1 Jahr regelmäßig durchführt, nachzulesen in der Tageszeitung „Der Standard“. Der dritte Teil des Gedichtbandes „passage d´enfer“ erzählt von Beobachtungen, Gedanken und Begegnungen im „anderen“ Land. Im Gedicht „rue de la vielle laterne“ (S. 92), beispielsweise, begibt sich Bauer auf die Spur des Schriftstellers Gérard de Neval, der sich in dieser heute nicht mehr vorhandenen Straße das Leben nahm und folgt seinen letzten Atemzügen.
„Ein Loblied auf die Laterne“ heißt der vierte und letzte Teil des Bandes und greift damit den nicht mehr existenten Straßennamen wieder auf. Im letzten Teil seines Bandes wird C. W. Bauer zum Bänkelsänger, zum tanzenden Lumpen, den er im ersten Teil einführt und zum schon erwähnten Narr, der gegen die allgemeine Verdummung seine Gedichte setzt: „vom himmel ist noch kein scherge gefallen / und dummheit gab es zu allen zeiten / ich setz dagegen meine gedichte / keine kanzel aber ein ziel“ (S. 58.). Es wird getrunken und getanzt, gereimt und gespottet. Der verbrecherische Dichterkollege Francoise Villon spricht dabei eifrig mit und auch das Vulgäre kommt nicht zu kurz.
„je pense que tout est dit“ – ich glaube es ist alles gesagt, mit diesen Zeilen endet das letzte Gedicht des Bandes. „stromern“ liest sich manchmal auch wie ein Aufbegehren, ein (hoffentlich nicht letzter!) Versuch, der gegenwärtigen Situation mit dem Gedicht etwas entgegenzuhalten. Der Weg dorthin führt in einer Zeit, in der sich die negativen Ereignisse überschlagen und man der Welt ein Atemholen wünschen würde, vielleicht tatsächlich über eine klare, direkte und metaphernlose Sprache, ohne Delikatessen, wie es Bachmann formulierte. Eine Sprache, die aufrichtig ist und der man (wieder) vertrauen kann, das wäre dann wohl der erste Schritt Richtung Ziel.

Gabriele Wild

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(1) http://www.thegap.at/buchstories/artikel/wie-schoen-dass-du-geboren-bist/seite-2/ 

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Markus Bundi: Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig
Innsbruck: Haymon 2015

Der Erzähler verschwindet doch nicht

© Haymon, 2015Der Titel des Essays zum Werk von Alois Hotschnig Vom Verschwinden des Erzählers von Markus Bundi ist „catchy“ und lässt aufhorchen: Da scheint jemand einen innovativen Begriff für eine Erzählinstanz einzuführen: den verschwindenden Erzähler. Die Erzählinstanz gewährleiste, Markus Bundi zufolge, „in der Regel – den roten Faden, nimmt den Leser an die Hand. Das kann eine externe oder eine interne Instanz sein.“ (9) Allerdings könne sie auch gänzlich verschwinden und in diesem Zusammenhang folgert der Verfasser: „Mit dem Eliminieren der Erzählinstanz verschwinden auch die Protagonisten, zumindest solche, denen man eine herausragende Funktion zuordnen könnte.“ (11) Kann die Erzählinstanz tatsächlich eliminiert werden? Und warum sollen in der Folge dann auch die Protagonisten verschwinden? Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Meint Bundi mit der verschwindenden Erzählinstanz vielleicht den personalen oder neutralen Erzähler? Jochen Vogt definiert diese in Anlehnung an Franz Stanzel folgendermaßen: „‚Neutral‘ heißt dabei: vom Standpunkt eines unsichtbar bleibenden Beobachters (oder einer Kamera) aus, ‚personal‘ im engeren Sinn: aus dem Blickwinkel einer der Handlungspersonen selbst.“ (Vogt 2014, 51). Ein Roman, der einen solchen Erzähler bereitstellt, ist von mehreren Literaturwissenschaftlern in der Vergangenheit als ‚erzählloser Roman‘ bezeichnet worden und das ist es wohl auch, was Markus Bundi mit dem verschwindenden Erzähler meint. Mit Recht wurde immer wieder angezweifelt, ob ein Erzählen tatsächlich ohne Erzähler funktionieren kann. Ist nicht immer jemand da, durch dessen Augen der Leser auf das Geschehen blickt, und jemand, der das, was er sieht, erzählt? Bundi versucht diesen Begriff anhand ausgewählter Erzählungen Hotschnigs zu illustrieren. Zunächst bezieht er sich auf den Textanfang in der Erzählung Begegnung aus dem Band Die Kinder beruhigte das nicht. Dabei stolpert er über das unpersönliche Pronomen „es“, das er für irritierend hält, weil es nicht zuordenbar sei und den Leser im Ungewissen lasse. Allerdings klärt die Erzählung den ‚irritierten Leser‘ dann ja auch schon im zweiten Satz auf, wie der Verfasser richtig feststellt, dadurch dass vom „Panzer“ die Rede ist. Nun beginnt Markus Bundi darüber zu rätseln, um welches Tier es sich wohl handeln könnte, und meint, dass der Leser mit „eine[r] neuerliche[n] Irritation“ (26) konfrontiert sei. Aber an welchen Leser / welche Leserin denkt Markus Bundi eigentlich, wenn er im kollektiven „wir“ spricht? Und wäre es hier nicht auch so, wie es gegen Ende des Essays hin heißt, „als geprüfte Leser finden wir uns zurecht“? (91) Wiederholt ist vom geprüften Leser die Rede (31). Auch hier liegt ein Problem dieses sicher gutgemeinten Essays: Was soll das Zielpublikum eines Bandes mit diesem Titel sein? Anzunehmen ist, dass Markus Bundi LiteraturwissenschaftlerInnen ansprechen will und hier vor allem jene, die sich mit den literarischen Werken Hotschnigs auseinandersetzen. Aber warum dann gleich zu Beginn ein Sich-Distanzieren von „akademisch[en]“ (9) Termini, weil sie einem „zu akademisch oder gar zuwider“ (9) seien? Höchstwahrscheinlich liegt auch darin meine Schwierigkeit mit dem vorliegenden Essay, dass mir die literaturwissenschaftlichen Fachbegriffe nicht zuwider sind. Denn trotz der Vielfalt, die sicher oft auch divergierend sein mag, ist der „geprüfte Leser“ in der Lage, diese sinnvoll für seine Interpretation zu nutzen.

Aber zurück zum Beginn der Erzählung Begegnung, den Bundi zitiert:

„Es hob den Kopf und erstarrte in dieser Pose, als gelte es, einem Gegner zu drohen, dann setzte es seine Wanderung fort. Sein Panzer schimmerte feucht in der Sonne. Hörbar schnappten die Schaufeln ins Leere. Gelegentlich legte das Tier sie um den Schaft eines stärkeren Halmes, und, wie um sich einen Überblick von der Umgebung zu verschaffen, zog es sich daran hoch […].“ (Hotschnig 93)

Setzt die Erzählsituation mit einer neutralen Erzählinstanz ein, ein Kamerablick folgt den Bewegungen des Käfers, sind diese allerdings durchbrochen von einer Perspektive,  die auf die „Anwesenheit eines persönlichen, sich in Einmengungen und Kommentaren zum Erzählten kundgebenden Erzählers“ (Stanzel zit. nach Vogt 59) hinweist: „als gelte es, einem Gegner zu drohen“ kann nur einer Erzählerinstanz zugeordnet werden, die sich Gedanken zu den Bewegungen des Käfers macht und sie auf der Grundlage ihrer Erfahrungen darstellt. Genauso ist der zweite Vergleich dieses Abschnitts zu lesen. An einer späteren Stelle taucht der Erzähler plötzlich und paradoxerweise auch im Essay von Markus Bundi wieder auf, Seite 32 heißt es, dass „der Erzähler“ nun von einem „‚Kampf‘“ spricht. Auf derselben Seite nennt der Verfasser dann − inkonsequent −  den „Chronisten“, unter dem er auch die Erzählinstanz versteht und kommt später dann auch noch auf den Autor zu sprechen, wobei nicht klar hervorgeht, ob er an dieser Stelle auch diesen mit der Erzählinstanz gleichsetzt.  (Dem Käfer spricht er jedes Bewusstsein ab, VertreterInnen von Human-Animal-Studies würden das diskreditieren, aber das nur am Rande.)
Auffallend ist, dass Markus Bundi viele Begrifflichkeiten einführt, die so gar nicht notwendig gewesen wären, wie die Begriffe „‚Operateur‘ als Ersatzbegriff für den Autor“ (77) (Sieht sich der Autor Hotschnig wirklich als Operateur?), Chronist für den Erzähler, die Erzählanlage für die Erzählsituation, behauptet er doch anfangs, Abstand nehmen zu wollen vom reichen Instrumentarium der Erzähltheoretiker.

In der Analyse der Erzählung Aus nennt Bundi dann den Begriff „Fokalisierungssubjekt“ (39). Stiften nicht gerade diese ständigen Abwandlungen der Begriffe Verwirrung? An dieser Stelle bemüht sich der Verfasser, zwischen erzählendem und erzähltem Ich, zwischen sich erinnerndem und erinnertem Ich zu unterscheiden, ohne allerdings diese begriffliche Unterscheidung explizit zu treffen. Das klingt dann so: „Die exzentrische Position wird dabei dem Ich zugewiesen, das quasi von außen dem Selbst zusieht, reflektiert, mit diesem seinem Selbst interagiert.“ (42) Und das „erzählende Ich versetzt sich zurück in die exzentrische Position von damals, blickt von außen auf eine frühere Sicht von außen, die – als das damalige Ich Selbst und Leib fassend – das Gedächtnis mitprägte.“ (43) Abseits der häufig unpräzisen Ausdrucksweise (Was heißt hier quasi? Sieht das Ich dem Selbst von außen zu oder nicht?), die in einem Essay präzisiert gehörten, fragt man sich hier, ob nicht gerade eine exaktere Begrifflichkeit diese Umständlichkeit der Darstellung vermeiden hätte können. Daneben tauchen Sätze auf, die spätestens dem Lektor auffallen hätten sollen, weil sie dem Essay schaden, Sätze wie, „Zweifellos haben wir es beim Autor Alois Hotschnig mit einem Menschen zu tun“ (27) und „Ein Käfer begegnet Ameisen. Wem aber begegne ich als Leser?“ (29). Daneben verblüfft, wie eigenwillig der Verfasser Hotschnigs literarische Texte „collagiert“, wie er selbst seinen Akt bezeichnet, in dem er „Sequenzen aneinander [...] hängt, beginnend auf Seite 22, der letzte Abschnitt findet sich auf Seite 65.“ (76) Das alles ohne eckige Klammern, die auf Auslassungen verweisen würden. Darf er das? Auch in der Analyse der Erzählung Ausziehen ja, Anziehen setzen sich die Ungereimtheiten fort: Anstatt den dramatischen Modus im Prosatext klar zu benennen, schreibt Bundi, man könne den Text auch als „einen Zwitter [...] betrachten, dem Drama als auch der Prosa zugehörig. Und hier tut sich der Verfasser schwer, einen Erzähler auszumachen, weil der dramatische Modus ohnehin ohne einen solchen auskommen kann. Im Zusammenhang mit dieser Erzählung verwendet er den Begriff „inszenierte Mehrstimmigkeit“ (89), der der Beschreibung der vielen Stimmen der Erzählung tatsächlich gerecht werden könnte.

Das Gute an diesem Essay ist, dass Markus Bundi weiß, dass er seine Fragen „noch immer nicht beantwortet“ (107) hat und dass er am Ende doch auch glaubt, keine „Ansprüche an die Voraussetzungen einer Leserin oder eines Lesers […] stellen“ (108) zu können. Und sein ganz am Schluss ausgedrückter Satz der Hoffnung ist ein gut gemeintes Plädoyer: „Womöglich gibt ja all das Fehlende jemand anderem Anlass genug sich seinerseits auf Hotschnigs Werke einzulassen. Das wär’s doch!“ (111)

Ja, das wär’s doch.

Barbara Siller

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Sekundärliteratur:

Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. 11. Auflage, Wilhelm Fink, Paderborn 2014

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Reinhilde Feichter: Frieda und James Bond. Roman
Bozen: Edition Rætia 2015

© Edition Rætia, 2015In einer Mischung aus Fiktion und Realität wird Emeli Knollseisens pikareske Geschichte von ihrer Geburt bis zu den späten 1970er-Jahren erzählt. Aus der Ich-Perspektive, was das Ganze autobiografisch wirken lässt. Von Anfang an ist ersichtlich, dass hier eine Schelmin ihre Lebenserinnerungen ausbreitet. Vorgestellt wird eine Simplicia Simplicissima des 20. Jahrhunderts, die die Südtirol-Konflikte in den 60er-Jahren als eine Art „Soldatentheater“ erlebt.

Alles beginnt mit der skurrilen Geschichte von der missglückten Namensgebung, die auf eine beinahe missglückte Geburt folgt: aus „Emerenzia Elisabeth“ wird das Frühchen Emeli. Ausgestattet mit Überlebenswillen, tritt hier ein selbstbewusstes, etwas naiv scheinendes Ich an, sich in der Welt einzurichten. Vor allem sind es innere Konflikte, die sich mit den beiden im Titel genannten Namen verbinden lassen: Ersterer bezieht sich auf Hecher Frieda, die mit ihrem Verhalten für Emeli und für das gesamte Dorf prägend wird, indem sie ihre gelebten Werte der Bescheidenheit, Rücksichtnahme und Angepasstheit zur Schau stellt. „Omas Steckenpferd war – wie es zu ihrer Zeit höchst angesehen war –, um fünf Uhr aufzustehen, auf jede Annehmlichkeit zu verzichten, jede Hilfe dankbar abzulehnen, sich selbst aufzuopfern und unersetzlich zu sein.“ Die „Demut“ hat eine Kehrseite, sie bedeutet Zurücknahme jeglicher Eigeninteressen, das Nicht-Aufkommen-Lassen von Individualität, schließlich Gehorsam, Unterwürfigkeit, Angepasstheit. Dies bildet den einen Pol, dem sich die Protagonistin verpflichtet fühlt, ausgedrückt durch eine innere Stimme, die ihr immer wieder vorsagt, wie sie „richtig“ leben soll, das zu tun, „was sich gehört“.

Doch da gibt es eine andere Stimme, die ihr zu Selbstbewusstsein, Durchsetzungskraft und Aufmüpfigkeit rät: James Bond, von dem sie einen Satz aufschnappt, bevor der Vater den Fernsehkanal wechselt: „Bescheidenheit ist die höchste Form von Stolz.“ Emelis James Bond ist die Kraft, die „Frieda“ in ihre Schranken weist und ihr zu einem selbstbewussten und aufrechten Leben verhilft. Mit der Entlarvung einer vermeintlichen Tugend beginnt der Seelenkampf. Die beiden wechseln des Öfteren ihre Positionen, aber letztendlich stehen sich in diesem Leben zwei Prinzipien gegenüber: Anpassung versus Rebellion. Diese Idee wird konsequent verfolgt. Wofür steht die Frieda-Stimme? Spaßverderben, Abhängigsein, keine Lust im Leben, sich ducken. Wofür James Bond? Selbstbewusstes Auftreten, Durchsetzungswille, Bekenntnis zum Spaß im Leben. Drei Sätze „Affirmationen“ zur Stärkung des Selbstbewusstseins schreibt Emeli sich auf: „‚Heute ist mein bester Tag!‘ schien mir passend. Um die Gehirnwäsche etwas zu präzisieren, klebte ich darunter: ‚Ich bin hellwach!‘, und ‚Ja, leck mich doch!‘, um Friedas Stimme abzuschaffen.“

Die Erzählerin berichtet aus ihrem Leben, von der Klosterschule, vom Spott, den ihr Nachname auf sich zieht, dem sie schließlich mit ihrer gefährlichsten Waffe begegnet: dem Lachen, dem hemmungslosen Auslachen jeglicher biederen Gesinnung. Lachen als Ausdruck des Protests gegen den unsinnigen Ernst in der Welt, gegen die Verteidiger dieses Ernstes. „So, wie ich manchmal zum heiligen Aloisius oder zur heiligen Notburga gebetet hatte, betete ich an jenem Mittwochabend zu James Bond. Ich ließ ihn mit unbändiger Kraft sagen: ‚Mein Name ist Bond. James Bond! Der Kämpfer gegen die Zerfriedlerinnen! Mein Auftrag an dich, Emeli, ist: Erinnere dich an deinen Schreibnamen und lache! Nimm das Fernrohr zur Hand und verkleinere die Friedas! Sobald es dir gelingt, dir auch die griesgrämigsten von ihnen lachend vorzustellen, lachend über sich selbst und befreit von ihrer eitlen Bescheidenheit, nimmst du ihnen jegliche Macht über dich und du bist entfriedelt.‘“ Friedas Aufforderung, zu werden wie alle, sich alle persönlichen Wünsche zu versagen zugunsten des Wohls der anderen, versucht sie in ihrem Leben mehr oder weniger erfolgreich zurückzuweisen. Das Stimmenduell erzählt von ihrer Ausbildung zur Lehrerin, von Blind Dates und Männerwelten. „Ich erzählte ihm von den zwei Stimmen. Er fand die Sache großartig und setzte das Ganze gleich künstlerisch um, indem er auf der Gitarre ein Lied komponierte, das hieß: ‚Don’t listn to the voices! Listn to the kisses! Yeah! Yeah! Yeah!‘“ Von der Entdeckung der Welt, dem Reisen, den Symbolen der Selbstständigkeit: eigenes Auto, eigene Kamera, eigene Wohnung.

So eröffnet sich ein im Grunde genommen normales, wiedererkennbares Leben, das sich zwischen Anpassung und Widerstand vor sich hin entwickelt, amüsant erzählt, mit schlauem Witz und frechem Augenzwinkern sowie mit der Gabe, über sich selbst zu lachen, was dieser Erzählerin die größte Freiheit verschafft: über Selbsterkenntnis und Humor zur Annahme eigener und fremder Unzulänglichkeiten zu gelangen. Es ist ein etwas biedermeierliches Gemälde, das so entsteht, aber auch das sollte nicht ganz ernstgenommen werden. Vergnüglich ist die Lektüre allemal.

Florian Braitenthaller

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Joachim Gatterer/Jessica Alexandra Micheli (Hg.): Ivo Barnabò Micheli. Poesie der Gegensätze. Cinema radicale. Mit Beiträgen von Wilfried Reichart, Christhart Burgmann und Mario Adorf. Übersetzungen aus dem Italienischen von Joachim Gatterer
Wien, Bozen: Folio Verlag 2015
  

© Folio, 2015Man ist es gewohnt, dass Folio-Bücher, sowohl was ihr Erscheinungsbild als auch was den Inhalt angeht, meist so anziehend sind, dass man gleich danach greifen möchte. Das trifft auf Belletristik und Sachbuch gleichermaßen zu, beim Sachbuch fällt es vielleicht noch stärker auf. Nun hat der Verlag einer insgesamt nicht sehr bekannten, zuletzt aber ganz in den Hintergrund getretenen Persönlichkeit aus Südtirol eine sorgfältig gestaltete und ästhetisch sehr ansprechende Dokumentation gewidmet.

Der im Jahr 2005 verstorbene Dokumentarfilmer und Regisseur Ivo Barnabò Micheli ist 1942 in Bruneck geboren und dort aufgewachsen. Er hat zunächst das ländliche Südtirol ‚inhaliert‘, bevor er nach Rom ging, um dort an der Universität La Sapienza Philosophie zu studieren und später in einem größeren Kontext Filme zu machen. Micheli war ein kluger Kopf, ein talentierter Kulturarbeiter und ein eigenwillig Denkender, er hat sich als Mensch und Zeitgenosse stets involviert und die gesellschaftlichen Widersprüche wie auch die sozialen Ungleichheiten beobachtet. Er war in der Südtiroler Peripherie und in der italienischen städtischen Kultur gleichermaßen zu Hause und gab in seiner Arbeit, was in den 1970er Jahren neu war, dem Wissen um und dem Gespür für beide Welten Bilder und Stimmen. Micheli war eine komplexe, nicht einfach zu fassende Persönlichkeit, und diesem Umstand wird das Buch gerecht: Die Herausgeber Joachim Gatterer und Jessica Alexandra Micheli (Michelis Tochter) gehen nicht linear oder nur chronologisch vor, sie verknüpfen Biografie und Werk zu einem mehrschichtigen Lebensbild, in dem die Bezüglichkeiten wichtiger zu sein scheinen als die konkreten Ergebnisse.

So überrascht es nicht, dass Joachim Gatterer, als junger Wissenschaftler und Angehöriger der nächsten Generation, „Bruchstücke“ aus Ivo Michelis Biografie, wie es im Titel seines Beitrags heißt, vorstellt und damit zum Ausdruck bringt, nicht Letztgültiges über dessen Leben aussagen zu wollen. Gatterers behutsame, respektvolle, aber doch auch kritische Annäherung entspricht dem eigenwilligen Menschen Micheli, der seinen Interessen abseits vom Mainstream nachging, seine ganz subjektiven Entscheidungen traf und zwar Beziehungen knüpfte, aber keinen Einflüsterer oder Kommentator an seiner Seite duldete. Michelis Leben kann man nicht lückenlos rekonstruieren, es lässt per se vieles offen. Genauso offen hat er als Filmemacher gearbeitet. Das unterstreicht Gatterer, wenn er Benedikt Sauer in der Ansicht folgt, Micheli habe keine klaren Antworten gegeben, er habe vielmehr „Fragen gestellt. Notwendige.“ (S. 10) Dem entspricht auch, dass Gatterer in seiner biografischen Annäherung selbst Fragen als durchgängiges Stilmittel einsetzt. Dass Ivo Micheli von einem bürgerlichen Standpunkt aus phasenweise sehr extrem gelebt hat, führt Gatterer auf ein frühes Trauma zurück: Der Jugendliche Ivo saß mit im Auto, als der Vater die Kontrolle darüber verlor und bei dem darauf folgenden Aufprall starb.

Eigenwillig war Micheli gewiss, aber er hatte auch Gleichgesinnte an seiner Seite. Im vorliegenden Band kommen Wegbegleiter bzw. Freunde, überdies seine Tochter Jessica zu Wort. Klaus Gasperi, der das Buch initiiert hat, liefert das Vorwort: Der Leiter des Stadttheaters Bruneck kannte Micheli „seit jeher“ (S. 7), er begleitete ihn immer wieder in seiner Arbeit und tauschte sich mit ihm aus, doch am Ende seines Vorwortes gesteht er, im Zuge der Entstehung des Buches viel Neues über Micheli erfahren zu haben. Der Filmjournalist Wilfried Reichart nähert sich dem Freund – wie Gatterer – in Erinnerungsbrocken an, er kann Ereignisse und Begebenheiten berichten, aber kein Gesamtbild abgeben. Reicharts Rückblick bleibt einmal mehr „bruchstückhaft“ und das ist auch gut so. Denn so bleibt man als Leserin oder Betrachter neugierig und aktiv, fügt selbst ein Teil zum anderen und vervollständigt allmählich das Bild – das Bild eines Kunstschaffenden nämlich, der da und dort im Filmgeschäft (auch international) unterwegs war, der viel erreicht, aber den großen Durchbruch nie ganz geschafft hat. Was zum einen verwundert, drehte er doch Filme über so ‚prominente‘ Persönlichkeiten wie Heinrich Böll oder Pier Paolo Pasolini, man möchte annehmen, das habe ihm größere Bekanntheit verschafft. Was andererseits jedoch nicht verwundert, blieb er in seiner Arbeit letztlich für einen breiten Erfolg insgesamt zu sperrig und wohl auch zu intellektuell.

Michelis Biografie wird anhand zahlreicher Fotos, seine Filmarbeiten werden durch spannende Originaldokumente illustriert. Man bedauert als Leserin, so manchen Film nicht gesehen zu haben und möchte die Lücke baldmöglichst schließen. Mit Mario Adorf drehte Micheli den Film „Eppur si muove“/“Und sie bewegt sich doch“ über Galileo Galilei, der wegen seines heliozentrischen Weltbilds in Konflikt mit der Kirche geriet und dem darum der Prozess gemacht wurde. In einem schriftlichen Interview, das Adorf anlässlich des Filmfestivals zum 10. Todestag von Micheli 2015 für Joachim Gatterer verfasste, sagt er, dieser Film nehme in seinem Schaffen „einen ganz besonderen Platz als ein kleines Juwel ein, das mehr öffentlichen Glanz verdient hätte.“ (S. 84) In den Filmen über Böll und Pasolini oder auch im Interviewfilm mit dem italienischen Drehbuchautor Cesare Zavattini findet Michelis Gesellschaftskritik Niederschlag; es ist eine Gesellschaftskritik, die nicht glaubt, alles verstanden zu haben oder sogar besser zu wissen, die vielmehr offen und suchend bleibt und durch das Stellen der richtigen Fragen auf Wahrheiten verweist. Micheli kommt überdies in übersetzten Interviews und Tagebucheinträgen zu Wort, dort stellt er Überlegungen an und gibt Meinung ab. Ein weiterer Aspekt sind die eingestreuten Film-Stills, die Michelis Stil, das Puristische oder den Wechsel von starker Bewegung und bildschöner Statik durchscheinen lassen.

Schließlich setzt sich das Buch mit dem reisenden Filmemacher auseinander. Das Ausbrechen, das Überschreiten von Grenzen, die Bewegung und das Fließende kommen in der Tatsache zum Ausdruck, dass Micheli seine Geschichten immer wieder entlang bestimmter Landschaften und Orte erzählen wollte. Etwa entlang der Donau in „Mila 23“, oder sozialen Randgebieten entlang, etwa in „Troppo di niente“. Michelis Tochter Jessica sieht in den ersten „Erkundungstouren“ ihres Vaters, unternommen in den 1970er Jahren, „eine klare politische Handschrift“ (S. 86). Es seien „‘politische‘ Reisen gewesen, die in gesellschaftliche Spannungszonen“ führten, das treffe in besonderer Weise auf den Film „Eritrea“ zu. In späteren Jahren habe sich die „politisch-kämpferische Komponente“ verschoben und in Richtung von „kulturgeschichtlich-anthropologischen Betrachtungen“ entwickelt. (S. 92) Jessica Micheli verweist darauf, dass mit der Ziel-Verschiebung auch eine methodische einherging: Ein poetischer Blick auf fremde Kulturen verschaffte sich mehr und mehr Raum, so etwa in den Filmen „Vento rosso“ und „Timbuktu oder Der Traum von einem Ziel“. Der Filmemacher fügte z. B. der Dokumentation fiktive Handlungen bei, auch nahm er nicht nur Orte und Menschen auf, er ergänzte diese Sequenzen durch geistige Zeugnisse, etwa Schriften.

Ivo Micheli publizierte zwischen 1966 und 2001 über 30 Filme unterschiedlicher Länge. Eine Filmografie im Anhang gibt über jede einzelne Arbeit Auskunft, doch mindestens die Hälfte der Filme wird im Hauptteil detaillierter vorgestellt. Auch über ihn als Filmemacher gibt es seit 2012 einen Film – es ist ein biografisches Porträt, in dem er „als Grenzgänger zwischen deutsch- und italienischsprachiger Kultur in den regionalen Kontext Südtirols eingeordnet“ wird. (S. 126)

In Gatterers und Michelis gelungener Dokumentation kommt die Information gewiss nicht zu kurz, doch sie steht in einer guten Ausgewogenheit zum sinnlichen Vergnügen, sich anhand vieler Fotos einen Eindruck zu verschaffen. Das Buch, und das ist angenehm, glorifiziert nicht, es bleibt in seinem Anliegen konkret und präzise. In seiner Mischung aus qualifizierten Texten und überaus spannendem Bildmaterial ist es beispielhaft, das Layout ist insgesamt sehr ansprechend. Das Schönste aber ist, dass das Buch nichts abschließt, sondern die Leser weiterhin neugierig hält, dass es sein Thema nicht zu Ende bringt, sondern eine Tür öffnet und zur Weitersuche anregt. Diese Suche kann sich in alle Richtungen entfalten.

Erika Wimmer 

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Lilli Gruber: Das Erbe. Die Geschichte meiner Südtiroler Familie. Aus dem Italienischen von Franziska Kristen
München: Droemer Verlag 2013, 336 Seiten und Der Sturm. Die Kriegsjahre meiner Südtiroler Familie. Aus dem Italienischen von Franziska Kristen
München: Droemer Verlag 2015, 353 Seiten

 
Fadenscheinige Knüpftechnik. Lilli Gruber erzählt die Geschichte ihrer Südtiroler Familie

© Droemer, 2015Lilli (alias Dietlinde) Gruber ist ein Spross der Großfamilie Rizzolli-Tiefenthaler aus der Gegend von Pinzon und Montan, “einer der Clans, die am beharrlichsten mit Deutschland sympathisierten und italienkritisch eingestellt seien.” So steht es in Grubers “Geschichte meiner Südtiroler Familie” mit dem Titel “Das Erbe” (2013), und so stand es im Abschlussbericht der Neumarkter Polizei für den Trienter Staatsanwalt vom 21. Jänner 1938, der für Grubers Großtante Hella (alias Elena) Rizzolli eine “polizeiliche Internierung von höchstmöglicher Dauer” einforderte. Denn: die Delinquentin hat in einer “Katakombenschule” Deutsch unterrichtet und für solchen Unterricht andere angeworben. Zumindest mit 7. Mai 1938, als Hitler in Rom “die von Natur zwischen uns aufgerichtete Alpengrenze für immer als unantastbar” erklärte, hätte diese den Führer verehrende Verwandte – wie auch Tausende SüdtirolerInnen mit ihr – zu besserer Einsicht kommen können. “Aber sie taten es nicht. Weshalb?”, fragte die nach wie vor anmutige, eloquente und daher medienwirksame ehemalige RAI-Reporterin und jetzige Moderatorin bei La7, die aus der Provinz nach Rom ging, Karriere machte, als Berlusconi-Opponentin EU-Abgeordnete wurde (alias “La Rossa”) und schließlich ihre Südtiroler Wurzeln in den Tagebüchern der Urgroßmutter Rosa Tiefenthaler wiederentdeckte. Mit ihrem Ehemann, dem AFP-Journalisten Jacques Charmelot, bereiste sie Land und Leute, zwei Jahre dauerte die Recherche, “Das Erbe” war ihr Ergebnis.

2015, nach weiteren zwei Jahren Recherche, folgte eine Fortsetzung dieser Familiengeschichte, die nach Rosas Tod (25.09.1940) in Berlin, im Mai 1941 einsetzt. Hella hat ihren Verbannungsort Castellucio längst verlassen. (“Die liebe Berta in Wien ließ keinen Versuch unprobiert und richtig, ist es ihr gelungen nach 10 Monaten, anstatt 5 Jahren, ihr die Freiheit zu verschaffen”, hat Rosa in ihr Tagebuch geschrieben.) Jetzt sitzt sie also in der Kroll-Oper und lauscht dem Redeschwall des Führers, ist erregt vom Beifall der Menge, lädt sich mit völkischer Energie auf. Am Anhalter Bahnhof, dem “Tor zum Süden”, lässt die Autorin Lilli Gruber “Die Schicksale [sich] kreuzen”: jenes der Hella mit jenem des Karl, Sohn eines Kommunisten und daher geächtet, überaus talentierter Grafiker, der schließlich in die “Aktion Bernhard” verwickelt wird. Diese Geheimoperation – Devisenfälschung in großem Stil durch Häftlinge im KZ Sachsenhausen – kennt man aus Stefan Ruzowitzkys Oscar-prämiertem Film “Die Fälscher” (2007). Den abgedrehten Stoff in den Familienerzählteppich einzuweben ist hanebüchen. Und noch andere Erzählfäden, unverwoben diesfalls, finden sich: die Ereignisse um das Attentat in der Via Rasella, Rom, März 1944, oder die prominenten Nazi-Geiseln im Hotel Pragser Wildsee, Mai 1945 (was für die Autorin ein “Erinnerungsausschnitt” ist, der “das Bild eines Landstrichs” veranschaulicht, “in dem von Anfang an die Losung von Versöhnung und Wiederaufbau galt”: du seliges Südtirol!). Sie sind hier bloß Füllmaterial für eine fadenscheinige Erzählmaterie, die von Autoren wie Joseph Zoderer (Der Schmerz der Gewöhnung, 2002 – Wir gingen, 2005), Sabine Gruber (Stillbach oder Die Sehnsucht, 2011) oder auch Anna Rottensteiner (Lithops. Lebende Steine, 2013) teilweise längst aufbereitet wurde: spannend, selbstreflexiv, technisch raffiniert. Hier dagegen gerinnt sie allzu sehr zu einer melodramatischen Suppe, der es an jener Würze fehlt, die leider nur hier und dort in den reportageartigen Einschüben zu schmecken ist. Das soll nicht bedeuten, dass diese beiden Bücher nicht lesenswert wären (das erste mehr als das zweite) – und ganz offensichtlich liest sie auch ein ziemlich großes italienisch- und deutschsprachiges Publikum.  Attraktivität und Prominenz kann man der Autorin eben nicht absprechen, ihr aber auch den Vorwurf einer wohlkalkulierten Erzähl-Naivität nicht ersparen.

Bernhard Sandbichler

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Angela Jursitzka: Alle Kriege wieder. Eine Historie. Hg. Richard Pils
Weitra: Bibliothek der Provinz 2015, 246 S., € 22

© Bibliothek der Provinz, 2015Der Begriff Historie ist mehrdeutig: Er kann Geschichte im Sinne von Geschichtswissenschaft meinen, aber auch einfach eine erdichtete Erzählung. Der Unterschied dieser beiden Bedeutungen ist geringer, als es auf den ersten Blick scheinen will. Denn auch ein Historiker ist genötigt, sein quellenbasiertes Faktenmaterial in eine lesbare Form, also in eine Erzählung zu bringen. Seine Lebenssituation, seine Weltsicht, seine politischen Einstellungen schreiben sich bei allen noch so strengen Objektivierungsversuchen in das wissenschaftliche Werk ein. Dass auch die Schriftstellerin Angela Jursitzka mit dem Vorhaben, die Geschichte ihres Vaters zu erzählen, sich auf ein erzähltechnisch schwieriges Terrain begibt, ist ihr bewusst. Unter ein Foto vom Bahnhof Fritzens-Wattens, an dem ihr im Krieg verschollen geglaubter Vater 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft ankam, heißt es: „Viel später begannen wir, die älteste Tochter samt Familie, seine Wege nachzuvollziehen. Wir haben ihn begleitet, aber nicht erfunden.“ (223) So ist nun dieses Buch tatsächliche eine Historie in der mehrfachen Wortbedeutung geworden. Die geschichtlichen Fakten wurden penibel recherchiert: Anhand von Dokumenten und Fotomaterial aus dem Familienbesitz, die zum Teil auch abgebildet sind, mit Recherchen vor Ort und der Lektüre von historische Zeitungen, Zeitschriften und geschichtlichen Werken. Ein paar Quellen werden gar in Fußnoten angeführt, wie das in wissenschaftlichen Werken üblich ist. Aber eben nur ein paar. Aber dieses Buch braucht die Fußnoten eigentlich nicht, denn eine Schriftstellerin kann und darf eine Geschichte ohne den wissenschaftlichen Ballast erzählen und der große Mehrwert gegenüber einer rein geschichtlichen Abhandlung besteht darin, dass die historischen Fakten in der Person des Vaters sozusagen Fleisch ansetzen, dass diese Persönlichkeit auch ein Innenleben bekommt.

In diesem Buch wird die Geschichte von Rudolf Siegert erzählt, der in Weipert („Jetzt heißen viele Städte und Flüsse anders“, 8), im westlichen Teil des ehemaligen Nordböhmens im Jahre 1896 geboren wurde. Damit gehört er – wie etwa auch Josef Leitgeb (Jahrgang 1897) und Friedrich Punt (Jahrgang 1898) – einer Generation an, die gerade alt genug war, um ihre Jugend im Ersten Weltkrieg zu verlieren und dann immer noch nicht alt genug war, um nicht auch noch im Zweiten Weltkrieg einrücken zu müssen. Und somit gehört er auch jener Generation an, die ihre Kindheit in der langsam zerbröckelnden Monarchie verlebte, relativ sorgenfrei und in Frieden.

Im ersten Kapitel wird in einer auktorialen Erzählperspektive die Kindheit und Jugend von 1904 bis 1916 eindrucksvoll geschildert. Rudolfs Vater, er heißt ebenfalls Rudolf, ist Posamentenfabrikant, Oberleutnant in der Reserve, Stadtrat und neben „Gott und dem Kaiser […] die höchste Autorität“ (8), den seine vier Söhne und Töchter, aber auch seine Frau mit „Sie“ anzusprechen haben. Zu Feiertagen und Geburtstagsfesten marschiert er als Major mit „gezogenen Säbel“ vor seiner Schützenkompanie. Der Vater ist evangelisch, die Mutter, eine Fabrikantentochter, ist katholisch und katholisch werden auch die Kinder erzogen, die aber mit dem Vater auch die evangelische Messe besuchen. Die Buben absolvieren die üblichen Bewährungsproben, um „ganze Kerle“ zu werden oder zu beweisen, dass sie solche (schon) sind. Im Grenzort Weipert-Neugeschrei, der nur durch einen Bach vom deutschen Ort Bärenstein getrennt ist, rittern sie sich beispielsweise mit der Jugend von der anderen Seite, wem denn nun der Bach gehöre. Doch ansonsten herrscht zwischen den beiden Dörfern freier Grenzverkehr, diesseits und jenseits des Baches stehen in den Haushalten Dosen mit Kronen, Hellern, Reichsmark und Pfennigen. Der mathematisch begabte Rudi opfert einmal sein immer zu knappes Taschengeld für rote Tinte, um damit eine besonders schöne Hausaufgabe abzuliefern. Die Enttäuschung ist groß, als ihm der Lehrer erklärt, die rote Tinte „sei ausschließlich Lehrern vorbehalten“ (18) und er demzufolge die Aufgabe neu schreiben muss. Vom Vater mit einem Besuchsverbot für das in einem Zelt aufgeschlagene Wanderkino belegt, beeindruckt ihn eine Szene, die er seitenverkehrt auf der Rückseite der Zeltleinwand sieht, nachhaltig. 1906 übersiedelt die Familie nach Reichenberg, wo Rudi das Gymnasium besucht. Bei der Geburt des jüngsten Bruders stirbt die Mutter. 1912 ertönt erstes Kriegsgetöse vom Balkan, 1914 wird der Thronfolger ermordet. Während Rudi mit Freunden Rasentennis spielt, „erhob sich aus allen Kirchtürmen ein nie gehörtes Sterbegeläut“, da hatten die Buben „zum letzten Mal einen friedlichen Wettkampf ausgetragen“ (27). Der älteste Bruder rückt schon im August ein, die jüngeren Brüder melden sich freiwillig, werden aber vorerst zu ihrer Schande wieder heimgeschickt. 1915 macht Rudi die Matura, küsst das erste Mädchen und inskribiert an der Technischen Hochschule in Wien: Er will Bauingenieur werden. Doch nach wenigen Wochen wird er assentiert, für tauglich befunden und macht ab Mitte November 1915 seine Ausbildung als Einjährig-Freiwilliger beim Festungartillerieregiment Nr. 3 Przemysl, dessen Ergänzungskommando aus Sicherheitsgründen in Budapest stationiert ist. Rudolfs Karriere nimmt ihren vorhergesehenen Lauf, nach der Offiziersprüfung schickt ihm der Vater seinen Säbel, mit dem er beim ersten Ausgehen versehentlich ein Kellerfenster zertrümmert. In der Ausbildung macht er nicht nur Bekanntschaft mit mehr oder weniger interessanten und eigenartigen Kameraden, sondern auch mit Wanzen und Läusen. Ein Fähnrich berichtet schon von (nicht vorhandenen) Kriegserlebnissen und illustriert diese mit Fotos von Soldaten, die sich für Geld vor der Kamera tot stellen. Zu einem ungarischen Mädchen entwickelt sich eine zarte Liebe. Böszi schenkt ihm zum Abschied ins Feld ein kleines blaues Pölsterchen, das der praktisch veranlagte Rudi aber gegen einen robusteres Polster eintauscht, was die Liebe schnell zum Erkalten bringt.

Es folgt das umfangreichste Kapitel, das den Kriegseinsatz an den Flüssen Oitoz (Rumänien) und Piave (Italien) beschreibt. Nun berichtet Rudi in der Ich-Form. Als säße die Erzählerin neben ihm und versuchte, aus unmittelbarer Nähe den Hintergrund seiner behutsamen Worte zu erfassen. Dem Leser erschließt sich das nicht so ohne Weiteres als wären diese Erinnerungen zeitlich erst sehr viel später verfasst worden ergänzt durch zu viel (späteres) Wissen. So wirken die vom Ich berichteten Kriegserfahrungen und –gräuel weniger unmittelbar, eher zurückhaltend und dadurch auch etwas weniger überzeugend als das erste Kapitel. Hungrig, verlaust und verdreckt langt Rudolf an der rumänischen Grenze an. Da es keine verlässlichen Lageinformationen gibt, brodelt die Gerüchteküche, der Kontakt mit dem Hinterland beschränkt sich auf formelhafte, zum Teil vorformulierte Briefbotschaften. Dann die erste Feuertaufe: „Der Verstand aber setzte sich im Ohr fest. Ungehörig lang war ich ganz Ohr. Sprengkräfte hieben auf mich ein, umklammerten die Brust. Schrapnellkegel barsten, blendendweißes Licht stach in die weit offenen Augen. Jeder Lidschlag brachte den kleinen Tod, trug die ewige Finsternis in sich. Knochenzertrümmernder Lärm durchschlug meine Schädeldecke, legte das Gehirn frei. Es begann wieder zu arbeiten.“ (69) Für seinen Einsatz, den er mehr als „Wagemut“ denn als „Mut“ bezeichnen will, wird Rudolf erstmals belobigt. Weitere Auszeichnungen folgen im Laufe des Krieges. Nachschub an Kriegsmaterial und Verpflegung gab es nie genug, Tapferkeitsmedaillen dafür zum „Schweinefüttern“ (75). Berührend sind Intermezzi wie das Plündern von Pflaumenbäumen „mit dem schlechten Gewissen von Buben, stets des Nachbars Knüppel gegenwärtig“ (76). Rudolf, nach 6 Monaten zum Leutnant befördert, lernt das Wort „Frontbereinigung“ (73) in seiner ganzen abgründigen Bedeutung kennen und hört die Schreie der Verwundeten, die erst in der Dunkelheit geborgen werden können. Sein Versuch, gezielt einen Gegner zu töten, endet vorerst mit einem Schuss in die Luft. Dann tötet aber auch er, aus „Rachsucht“, weil ein Freund von einem Scharfschützen aus dem Hinterhalt erschossen wird. Gleichzeitig fühlt er sich in seiner Stellung aber auch bald als „sein eigener Herr“, „Existenzsorgen“ (95) plagen ihn (noch) nicht. „Im Zweiten Weltkrieg, und besonders während der langen Kriegsgefangenschaft in Russland, war die Sorge um Frau und Kinder schlimmer als jede Drangsal und der Hunger.“ (131) So kehrt er auch vom Fronturlaub wieder gern in seine Stellung zurück, zumal in der überfüllten Straßenbahn ein Zivilist den Uniformierten mit den Worten angepöbelt hat: „Leute Ihres Schlages sind schuld daran, dass der Krieg so lange dauert.“ (93) Nachdem Rumänien im Mai 1918 aus dem Krieg ausscheidet, kommt Rudolf an die vorderste Italienfront am Piave. Dort fehlt es bereits an Allem, der Nachschub an Kriegs- und Versorgungsmaterial ist am Zusammenbrechen, fähige Befehlshaber fehlen: Das A.O.K (Armee-Ober-Kommando) wird von den Soldaten in „Alles-Ohne-Kopf“ umbenannt (123). Rudolf befehligt eine Geschützstellung ohne Munition. Insgesamt eben der Wahnsinn und die Sinnlosigkeit des Krieges „alle Kriege wieder“. Berührend ist die Geschichte vom tschechischen Burschen, der dem Leutnant treu ergeben dient, der aufgrund seiner bäuerlichen Herkunft in praktischen Dingen dem Offizier weit überlegen ist und manch schwierige Lage erleichtern hilft. Es entsteht eine Freundschaft, die auch nach dem Krieg weitergepflegt wird.

Im nächsten Kapitel – nun erzählt wieder die „Erzählerin“ – schwingt sich Rudolf in Ermangelung von sinnvollen Befehlen zum selbsternannten „Rückzugsfeldherrn“ (150) auf. Er bringt einen „Haufen von fünfzig, meist anderssprachigen Menschen“ (143), der Großteil davon Polen, mitsamt der Batteriekasse auf abenteuerlichen Wegen über den San Boldo Pass, ein Stück den Piave nordwärts, dann durch das Boite-Tal nach Cortina, weiter durchs Höhlensteintal bis nach Lienz. Es gelingt ihm, die alte „Hackordnung“ (161) unter Aufbietung aller militärischen Strenge aufrecht zu erhalten. Obwohl der Krieg inzwischen zu Ende ist – die einstigen Kriegskameraden sind nun „Feinde“ – marschieren sie noch gemeinsam Richtung Spital an der Drau, aber schon in ihren Nationalfarben: „Rotweißrot, Schwarzrotgelb, Rotweißblau und vor allem das Weißrot der Polen“ (174). Mit fünfzehn Mann, darunter auch dem Burschen marschiert Rudolf über den Katschberg nach Mauterndorf. Dort werden die Heimkehrer gar nicht so freundlich empfangen und behandelt, auch im Zug nach Wien nicht. Im Kriegsministerium, das nun Staatsamt für Heereswesen heißt, fühlt sich niemand mehr für die gerettete Batteriekasse zuständig. Dann kehrt Rudolf nach Reichenberg zurück, in einen neuen Staat, die Tschechoslowakei, der keine Sudetendeutsche mehr will, schon gar nicht, wenn sie wie Rudolf österreichische Staatsbürger sind.

Die Zeit von 1918 bis 1945 kommt im nächsten Kapitel viel zu kurz, offenbar weil Rudolfs Aufzeichnungen nur bis 1920 reichten (201). Da wird nun kräftig mit geschichtlichen Daten aufgefüllt und auch mit lapidaren Erkenntnissen nicht gespart: „Doch selten lernt jemand aus der Geschichte“ (202). Rudolf schließt sein Studium ab, geht seinem Ingenieurberuf nach und heiratet 1935. 1938 wird die Tochter Angela in Böhmisch-Leipa geboren. 1938 jubeln die Sudetendeutschen dann ihrem Befreier Hitler zu. Was Rudolf zu dieser Zeit getan und gefühlt hat, erfährt man nur durch die Beobachtungen seiner Tochter Angela aus der Sicht des Kindes. Im August 1944 zum Volkssturm einberufen (213). Zurück bleibt eine schwermütige Frau mit inzwischen zwei Kindern. Das Schicksal des Vaters bleibt ungewiss und erzählt hat er später offenbar darüber sehr wenig. Nach Kriegsende werden die Sudetendeutschen vertrieben, Frau Siegert mit Ihren zwei Kindern reist nach Österreich. Angela kommt nach Wattens zu entfernten Verwandten. Angela, verheiratete Jursitzka, lebt heute mit ihrer Familie in Innsbruck. Das Buch endet mit einem bereits 2007 erstmals erschienenen autobiographischen Text der Autorin, in dem sie sich an Vertreibung und ihre ersten Erlebnisse in Tirol erinnert. Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung des „Puppenmordes“ (225): und schließt mit dem Satz: „Fragt mich bloß nicht, ob ich wieder ein Kind sein möchte.“ Vollendet wird die Geschichte mit dem Nachwort „Erinnerungsräume“, einem durchaus versöhnlichen Ausklang mit Tschechien.

Anton Unterkircher

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Markus Lindner: Animalia etc. Gedichte. Mit Grafiken von Linda Bilda, köstebek und dem Autor
Wien: edition fabrik.transit 2015. 90 Seiten 

„Meine verpfändeten Gedichte / kommen im Traum als Worthülsen / und fordern ihre Freiheit zurück“
Markus Lindners Lyrikband Animalia etc.

 

© edition fabrik.transit, 2015Mit Animalia etc. legt Markus Lindner nach seinem Prosawerk Schmelze (2014 in der Bibliothek der Provinz) seinen ersten Gedichtband vor. Er besticht von außen durch eine originelle Zeichnung aus der Hand des Künstlers, die in ihrer Skurrilität und ihrem Detailreichtum mit den Texten im Inneren des Bandes korrespondiert.

Der Band gliedert sich in drei Teile. Der titelgebende erste Teil, [Animalia], wird mit einer Zeichnung der Wiener Künstlerin Linda Bilda eröffnet und umfasst sieben Texte – davon einen in Prosa –, die Szenarien zwischen Tier und Mensch heraufbeschwören. Die Verbindung der Kreaturen erfolgt im zweiten Gedicht, Spinne, über einen Faden, der dem lyrischen Ich aus der Nase wächst:

Ein Schmerz an der Nasenwurzel, der Faden,
inzwischen einen Meter lang, kommt aus der Nase;
ich schreie, versuche die anderen auf mich
aufmerksam zu machen, die Frau, die neben mir
sitzt, sie schaut kurz zu mir, blickt dann wieder auf
den Tisch. […] (S. 8)

„Unsichtbare Fäden der Fledermausschreie“ (S. 9) sind es auch im folgenden Gedicht, die ein Netz zwischen dem lyrischen Ich und den Sternen spinnen. Die Mensch-Tier-Beziehung steht auch in den weiteren Texten im Vordergrund. Berichtet wird von Kartoffelkäfer jagenden Kinderhänden, von der nordkoreanischen Hühner- und Eierproduktion und einem Fengshui-Meister, der mithilfe eines geköpften Huhnes die guten und schlechten Kräfte in einem Raum auszuloten versucht, bevor die Bilanz auf dem Teller gezogen wird:

Warme Kühe von 11-23h
Sur-Schnitzel
Gebratener Goldarsch
Lachfilet natur in Zitronen-Buttersauce
Gefällte Zucchini
Raucherkäse (S. 14)

Der zweite Abschnitt des Bandes, das [diarium], enthält neben tagebuchartigen Einträgen etliche Bilder Lindners aus dem Zyklus pixel aus dem Jahr 2009. Die Texte befassen sich mit der Natur („ein Wort für Regen, / ein anderes für Schnee, / das dritte dann Nebelmeldungen, / das letzte sicher: Eis.“, S. 24) ebenso wie mit Erlebnissen im Zugrestaurant (S. 27) oder Einträgen einer Online-Enzyklopädie (S. 29). Dabei besteht der besondere Reiz dieser Beobachtungen oft in der Zusammensetzung und Montage von Zitaten mit Lindners eigenen Sprachschöpfungen sowie im Sprachspiel („Allerdings Allerseel Nirgendwann Nirgendwas“, S. 23).

Der dritte Teil, [Un-Ordnung], ist mit seinen knapp 40 Texten das Herzstück des Bandes. Am stärksten sind die Texte über konkrete, tagesaktuelle oder -politische Ereignisse, wie das Begräbnis von Jörg Haider (S. 46f.) oder das Gedicht „Das Ziel Europa“ (S. 76), eine Collage von Schlagzeilen zur Flüchtlingskrise:

Bankenblockade in Griechenland
Zeltstädte
Sanfte Informationspolitik
Angezündete Häuser in Deutschland
Jugendliche schießen auf Migranten in Wiener Neustadt
In Ungarn einen neuen Eisernen Vorhang aus NATO-Draht
Traiskirchen schließen
Wüstentage und Tropennächte
Volksbefragung im Burgenland
Türkei bekämpft IS sagt sie
Türkei bekämpft PKK
200 tägliche Einsätze der Flugzeugkoalition in Syrien und dem Irak
50.000 Flüchtlinge auf den Ägäisinseln

Die Textkollagen Lindners werden mit Bildkollagen ergänzt, die leider in der aufgrund des Buchformats verkleinerten Form nicht so zur Geltung kommen, wie sie es in einem größeren Format (und in Farbe) könnten.

Die Formenvielfalt der Texte ist beachtlich, es finden sich epigrammatische Kurzgedichte ebenso wie an die visuelle Poesie angelehnte Texte („Die leeren Sätze“, S. 56, „Spaziergang, der Stern beim Mond“, S. 69). Häufig löst Lindner einzelne Wörter oder Sätze aus einem (medialen) Zusammenhang heraus und kontrastiert sie mit anderen, der ursprüngliche Kontrast hebt sich auf und es entsteht ein neues, oft surreales, von Wortwitz geprägtes Bild. Oder mit Lindner gesprochen: „Meine verpfändeten Gedichte / kommen im Traum als Worthülsen – / … / und fordern ihre Freiheit zurück“ (S. 59).

Irene Zanol

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Karl Lubomirski: Sieben Meere. Gedichte
Wien: Löcker 2015 (edition pen Bd. 22)

 

© Löcker, 2015„Nicht was ein Gedicht will oder sagt, ist entscheidend, sondern was es hervorruft. Oder anders gesagt: die Wahrheit des Gedankens ist seine Form.“(1) Diese Sätze – sie stammen von Kurt Drawert ‒ messen der Tätigkeit des Lesens, die eine Tätigkeit des Imaginierens ist, große Bedeutung bei; gleichzeitig führen sie sie zurück auf die Qualität des poetischen Wortes. Je größer ihre Evokationskraft, umso poetischer sind die Wörter; je differierender die Sinnmöglichkeiten, die sie zulassen, umso komplexer die in ihnen enthaltenen Wahrheiten.
Nun, woran denkt einer, wenn er den Titel „Sieben Meere“ liest? Da denkt einer wohl an die sieben Weltmeere und (der Logik dieser zwei Wörter folgend, die eine Logik des Klangs ist und sich der Evokationskraft der magischen Zahl 7 verdankt) an die sieben Weltwunder, die sieben Todsünden, vielleicht auch (in guten Momenten) an die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen und ans Schneewittchen, welches glaubte, davon gekommen zu sein, bis es der Tod auch hinter den Bergen fand. Heute lauert der Tod in den Meeren. Unsere Augen und Ohren werden täglich gefüllt mit Bildern von todbringenden Meeren. Wer heute in Europa ans Meer denkt, denkt an den Tod.

Das Gedicht „Großstadt Europa“ auf S. 25 gibt Aufschluss über den Titel; es entschlüsselt und verschlüsselt zugleich das Bild: ebenso lapidar wie berührend endet es mit den Versen: „Hinter der Zukunft / Sieben Meere der Hoffnung“. Karl Lubomirski wählt als Titel für seinen jüngsten Gedichtband ein Bild, das auf knappstem Raum, in nur zwei Wörtern, die Ängste und Hoffnungen vieler tausender Menschen evoziert, jener in Europa und jener in der Warteschlange vor Europa. Auf minimalem Raum wird ein Maximum an kommunikativer Dichte erzeugt. Es ist der sprachliche Mehrwert, der aus einer geringen Zahl von Wörtern Poesie macht.

„Hinter“ der Zukunft beginnen die sieben Meere der Hoffnung, hinter „den Wolken der Armut, Zerstörung im Schutz der Gemeinschaft, Freiheit des Niederschreiens, nur“ beginnt erst die Hoffnung. Das Problem, an dem „davor“ die Hoffnungen zerschellen, liegt in der schrumpfenden Zeit, in der Zeitnot. „Keine Zeit mehr“, heißt es im selben Gedicht, „für Weiß, Schwarz, Sichel, Hammer, Grün und Rot, Streifen, Sterne / Kreuze, Moscheen, Tempel keine Zeit mehr“. In der Großstadt „Europa“ wird alles, ganz gleich welcher Couleur, von einer ungeheuren Beschleunigung erfasst.

Das Thema ‚Zeit‘ zieht sich als roter Faden durch den gesamten Band. Viele Gedichte benennen jene kurzen Augenblicke, in denen das Verrinnen der Zeit greifbar wird. So lautet auch das erste Gedicht:

Es war eine große Reise
durch die Herzen der Menschen
und unbemerkt.

Es ist ein 3-Zeiler, in der Tradition der Haikus stehend, aber auch in der Tradition der lapidaren und musikalischen Verse eines Salvatore Quasimodo. Lubomirskis Dreizeiler lesen sich wie eine Hommage an den großen sizilianischen Dichter, wie Antworten auf dessen berühmtesten Dreizeiler „Ed è subito sera“:

Jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
Getroffen von einem Sonnenstrahl :
Und plötzlich ist Abend.

Lubomirskis Dreizeiler rezipieren in ihrer melancholischen, lakonischen Kürze die stark komprimierten Gebilde des italienischen Ermetismo. Sie führen das Erbe eines Giuseppe Ungaretti fort, dessen berühmtestes und kürzestes Gedicht so geht: „m’illumino / d‘ immenso“, in der Übersetzung von Ingeborg Bachmann: „Ich erleuchte mich / durch Unermeßliches.“ Viele der kurzen Gedichte Lubomirskis zeichnen sich dadurch aus, dass sie Konkretheit und einen klaren Gegenwartsbezug mit einer spirituellen Dimension vereinen. Wie japanische Haikus beschreiben sie scheinbar nur Natur- oder Alltagsereignisse; doch für den, der sie erkennt, offenbart sich in den Dingen des Alltags auch eine religiöse Bedeutung, wie in folgendem Beispiel aus dem dritten Teil des Bandes „Orte“:

IM KAISERPARK VON KYOTO
Ein Bambuszaun.

Jenseits aber
Heilige Hirsche.

Oft muten Lubomirskis Gedichte wie kurze Gebete an:

SCHWESTER ZEIT,
in deinem Sternenhaar
hat mein Leben
sich verfangen,
kämm es
noch nicht aus.
(S. 49)

oder wie Stoßgebete:

Ewigkeit,
fall mir nicht
ins Wort.
(S. 61)

Die Ewigkeit, die hier angesprochen wird, bleibt ohne Beiwort, ist namenlos. Nicht gesagt wird, ob sie göttlich ist, ob sie eine universelle oder eine persönliche ist. Nicht gesagt wird auch, womit die Ewigkeit ins Wort fällt: ob mit Stille oder ob ihrerseits mit einem Wort. Es sind Ausrufe, Einsprüche oder auch weit offene Konstatierungen wie in:

DIE UHR

Rätselhafter Wanderstab
durchs Leuchten
und Verblassen.
(S. 19)

Oder auf S. 134:

DIE RESTE VON MORGEN
unendlich hier.

Die Zeit, von der hier gesprochen wird, steht in Beziehung zum Imaginären. Sie ist unendlich, und als Lesende partizipieren wir an dieser unendlichen Energie. So gesehen, produziert ein Gedicht „ein zeitliches Volumen, das es nicht wieder zurückhaben will“ (Drawert). Gedichte sind Zeit-Geschenke. Sie kontern unsere tägliche Erfahrung, dass uns die Zeit gestohlen wird, dass wir über sie nicht mehr frei verfügen können. Zeit und die Vernichtung von Zeit, nicht nur im Sinne einer physischen Endlichkeit, sondern in dem der Fremd-Besetzung durch eine über uns verfügende Macht, das wird vom Lyriker Lubomirski immer wieder durchdacht und ins Bild gebracht. Gedichte sind Bedeutungs-Generatoren, Sinn-Schöpfer, da sich in ihnen die Sprachfiguren semantisch öffnen und das Reale der Sprache mit dem Imaginären verbinden. Wer sich auf ein Gedicht einlässt, erfährt unmittelbar, wie sich das Imaginäre in ihm in Raum und Zeit ausbreitet. Es ist eine nahezu körperliche Erfahrung von Zeitstillstand. Mit seiner Komplexität kommt ein Gedicht der Wahrheit der Wirklichkeit am nächsten, weil es auch Emotionen transportiert, die anders nicht beschrieben werden könnten. Als Beispiel sei hier das Gedicht von den Pflanzen-Menschen zitiert:
S. 11:

AUCH DU HAST SIE ANGETROFFEN,
die Malven-Menschen,
die Rosen-Menschen
die Palmen-Menschen
und die Tollkirschen-Menschen,
an denen man stirbt.

Die Eigenart dieser Lyrik ist ihre Musikalität, die betonte Reduktion der Verse, in denen die Silben wie leichte Hammerschläge skandiert werden. Die Gedichte sind transparent, sie verwirren nicht. Es sind sprachlich ruhige Gebilde, die einen nicht unter ‚Enträtselungsdruck' setzen, um hier ein Wort von Hubert Winkels zu gebrauchen. Überhaupt sind es leise Gebilde, die kein großes Aufsehen um sich machen, die nicht erster Linie auf sich selbst verweisen, womit sie ganz eindeutig quer zum Trend stehen. Sie bevorzugen es, die Aufmerksamkeit auf das Gesagte zu lenken, d.h. auf das Nur-Angedeutete, das Nicht-Gesagte. In Lubomirskis lakonischen Gedichten ist jedes Wort von Stille umgeben. Ein wenig könnte man sie mit jenen von Ilse Aichinger vergleichen, welche gesagt hat, dass jedes Wort durch sehr viel Schweigen gedeckt sein müsse, um notwendig zu werden. So lässt Aichinger die Figuren ihrer rätselhaften Erzählungen auch vom Verschwinden träumen. Sie üben sich im Gehen ohne Spuren zu hinterlassen. Sie sind Lumpengesindel, Puppen aus Fetzen, sie verkörpern Aichingers Suche nach dem Zweitbesten und ihre Wahl des Drittbesten. Wer sich selbst quasi aus dem Weg räumt, erkennt, so Aichinger, dass die Welt aus einem Stoff ist, der Betrachtung verlangt. „Betrachtung“, sagt sie(2), „das ist ein schönes Wort; als ließe man Stille zwischen sich und den Gegenstand fallen und der Höllenlärm, der stumme Lärm, der für gewöhnlich in diesem Raum ist, vergeht.“ Diese ‚meditative‘ Haltung, die sich aufs Nur-Zuschauen, Nur-Hinhorchen beschränkt – aber es ist keine Beschränkung – zeichnet auch bei Lubomirski den Dichter aus, wie es im Gedicht „Poet“ heißt: „Er geht an seinem Rand / wie andre / in der Mitte / er weiß sich längst verbannt / aus Fluch, Gebet und Bitte / und sieht dem Tanz / der Falter / ums offne Feuer zu.“ Er geht „an seinem Rand“, er positioniert sich nicht in der Mitte: „Ich, du langweilst mich.“, heißt ein Dreizeiler. Der Dichter schaut zu, d.h. er schaut genau hin. Gedichte zu schreiben, ist für ihn eine schicksalhafte Bestimmung, eine Plage, eine Verdammnis. So wie Mücken vom Licht angezogen werden, so fallen die Gedichte über das Ich her, heißt es auf S. 57. Es kann sich ihrer nicht erwehren, es wird sie nicht los. Auch das ist ein wiederkehrendes Thema bei Lubomirski: die Conditio Humana eines Dichters, die Tragweite einer Existenz im ‚Griff‘ der Sprache. Jedes Gedicht ereignet sich als einmaliger ästhetischer Vorgang, der nur sich und seinem Anliegen verpflichtet ist und mit keiner anderen poetologischen Vorstellung konkurriert. Da es selbst die Regeln festlegt, denen es folgt, gelingt oder scheitert es auch nur an seinem eigenen Anspruch. Lubomirski zieht die Diversität der poetischen Register einer im Grunde auch ideologisch geführten Tendenzdiskussion vor und bewahrt sich das Gedicht als einen Ort der Freiheit. Er hat mit „Sieben Meere“ eine gehaltvolle, letztlich transzendente ‚Betrachtung‘ geschrieben über das, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Über die Erfahrung von Zeit, welcher das Leid eingeschrieben ist, über das kurz aufblitzende Glück wie in „Genesung“, in „Dezembertag“ oder in „Der Lachs“, wo der kräftige, stromaufwärts schwimmende Fisch zum Bild wird für die Kraft des Lebens: „Siehst du ihn, / stark und silbern / über Strom und Schnelle / inmitten Todes fliegen / und / siegen.“ Zahlenmäßig aber überwiegen jene Gedichte, in denen die ‚Bodenlosigkeit‘, ‚Haltlosigkeit‘, ‚Ausgesetztheit‘ der menschlichen Existenz zur Sprache kommt:

MANCHMAL
scheinen die Tage
so schwer
und doch
fehlt scheinbar nichts,
außer
dem Boden.

Lubomirski benennt die Erfahrungen von Angst, von ständiger Bedrohung („Weltfriede, Knospe, die immer wieder abfällt“), von Enttäuschung („Es war / eine weite Reise / in die Herzen / der andern / und / selten kam man / gestärkt / zurück.“). Im Gedicht „Ich bin dein Ausländer“ sagt das lyrische Ich abschließend: „weiß nicht / ob das Leben breiter ist / als lang, / und warum mein Zwillingsbruder / Abgrund heißt.“ Was in diesem Gedichtband poetisch unternommen wird, bringt Pema Chödrön, die buddihistische Nonne und Schriftstellerin auf die Formel: „Geh an die Orte, die du fürchtest!“(3) Das menschliche Leben sei, so Pema Chödrön, von der Erfahrung geprägt, nie präsent zu sein. Wir haben eine fast zwanghafte Tendenz, uns abzulenken, um eine tief sitzende Unruhe, ein latentes Unbehagen nicht zu spüren. Die buddhistische Erklärung für die Ursache dieser Unruhe ist, dass wir immer versuchen, Halt und einen festen Boden zu finden, und uns dies nie wirklich gelingt. Jeder Versuch, für uns Inseln der Sicherheit zu finden, führe aber zu Ichzentriertheit und damit zu großem Leid. Weil uns aber Ichzentriertheit schwäche, erscheine uns die Welt auf Dauer furchteinflößender. Unsere ganze Persönlichkeit, unsere gesamte Egostruktur, gründe darauf, dass wir den Ort der Halt- und Bodenlosigkeit nicht betreten wollen. Wenn wir aber lernen, uns unserer Unruhe auszusetzen, machen wir uns mit diesem Ort vertraut, sodass er allmählich seine Bedrohlichkeit verliert.
Lubomirskis Gedichte schenken uns Zeit und laden uns ein, an den Orten, die wir fürchten, zu verharren. Sie führen uns zur Kürze des Lebens, zur Unruhe der Städte, zum lauernden Tod, zu Krankheit, zum Freitod, und laden uns ein, darin zu verharren, voller Mitgefühl für uns selbst und für andere, mit Weisheit. Im 4. Teil des Gedichtbandes ‒ er trägt den Titel „Das Heilige“ ‒ löst sich die Umklammerung des Schreckens. Das letzte Gedicht schließt mit einem Bild der Erlösung. Aufwühlende Emotionen werden geglättet, leidvolle Erfahrungen lösen sich auf:

DER HIMMEL
glättet sich.
Es glätten sich
die Meere.
Dein Narbenkleid
es flattert,
wie erlöst ins Leere.
Friede.

ein Gebet
weiter,
wartet
dein Gott.

Wer, wie hier das lyrische Subjekt, seine Reise in einem solchen Vertrauen macht, ist wahrlich zu beneiden. Lubomirskis Band spricht die Hoffnung aus, dass dieses Vertrauen nicht unbegründet ist.

Eleonore De Felip
   



(1) Draghinescu, Rodica: Fragen an Kurt Drawert, online: http://www.kurtdrawert.de/_data/pdf/gespraech-mit-rodica-draghincescu.pdf [2.2.2016]
(2) Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/MMain: Fischer 1991, S. 50 (1951).
(3) Pema Chödrön: Den Sprung wagen. Wie wir uns von destruktiven Gewohnheiten und Ängsten befreien. 3. Aufl. München: Goldmann 2013. 

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Mittelschule Mariengarten (Hrsg.): Wer das liest, ist ...
Krasse Geschichten
Bozen: Edition Raetia 2015

© Edition Raetia, 2015Mariengarten. Die an das gleichnamige Zisterzienserinnen-Kloster angeschlossene Internatsschule in St. Pauls-Eppan, eine Mittelschule, die sich einem bemerkenswerten Leitbild verschrieben hat (vgl. http://www.mariengarten.it/), hält offenbar nicht viel von der rundherum grassierenden Selbstlob-Sucht. In dieser Schule kommen demnach zuallererst auch nicht die Schulträger oder die Lehrenden, sondern – die Schüler/innen zu Wort.
In einem unlängst erschienenen Lesebuch präsentieren Schüler und Absolventen dieser Mittelschule selbst-verfasste Erzählungen: Geschichten, die darauf schließen lassen, dass die jungen Autorinnen und Autoren (zumeist Angehörige der Jahrgänge 2001-2003) von einer intensiven Lernbegleitung profitiert, dabei aber nie Marschrouten kennengelernt haben, die in Schreibseminaren gelegentlich inständig empfohlen, von ernstzunehmenden Schriftstellern jedoch nie beschritten werden. Die Leiter/innen dieses Projekts (Claudia Oberhollenzer, Martin Pichler, Maria Pirpamer) haben offensichtlich den Jugendlichen keine Vorschriften mitgegeben, worüber und wie sie schreiben sollten; und somit schreiben sie Abenteuer- und Detektivgeschichten, Schulgeschichten und Liebesgeschichten, ganz unbekümmert um alle Diskussionen darüber, dass derartige Genres doch längst schon ausgedient hätten. Aber sie thematisieren unverfroren auch Wunsch- und Angstträume, Hoffnungen, Illusionen, Enttäuschungen, das Reden über coole Klamotten und das Schweigen über familiäre Konflikte.
Merkwürdig: Die Schauplätze dieser Geschichten, sofern sie explizit genannt werden, liegen zumeist (jedenfalls aus Bozner Perspektive) in weiter Ferne. Die Musik spielt in Berlin, New York oder Las Vegas, wenn nicht sogar auf Reisen durch unser Sonnensystem oder darüber hinaus; Südtirol aber ist augenscheinlich mega-out. Als wäre das Land unzugänglich, bestenfalls peripher wie die Themen, die in der Literatur dieser Region früher einmal intensiv verhandelt worden sind oder auch immer noch eine Rolle spielen: die konservativen Identitätsmuster, die traditionellen Selbst- und Fremdbilder, die längst obsoleten „Wir“-Gefühle. Als wären alle diese Geschichten nicht in einer Landschaft entstanden, in der deutsch- und italienischsprachige und ladinische Texte neben- und mit-einander im Wettstreit stehen. In diesen Geschichten wird ausschließlich Deutsch gesprochen.
Anregungen aus der Literatur werden kaum einmal aufgenommen; hin und wieder grüßt Rosamunde Pilcher, Videospiele wirken jedoch bestimmt weit stärker nach: Banditen und Soldaten tummeln sich in diesen Geschichten, Teufelskerle und Siegertypen, soweit das Auge reicht. – Bisweilen wäre es vielleicht doch angezeigt gewesen, da und dort stärker einzugreifen und zu redigieren: z. B. unmissverständlich als Halluzination aufzudecken und zu charakterisieren, was hin und wieder durchaus umsetzbar erscheint (wie der Traum, es wäre fast ohne weiteres möglich, in der Wüstensteppe von Nevada auf zahmen Wildpferden zu reiten und zwischendurch von Zeit zu Zeit aus einem See Trinkwasser zu schöpfen).
18 Autorinnen und Autoren, darunter: Maria Luigia Benvenuti, Amelie Burger, Niklas Foradori, Jürgen Göller, Benedikt Gramm, Leander Gruber, Julian Höller, Lisa Kiem, Maria Malfertheiner, Vanessa Martini, Sidonie Prokopp, Manuel Toni Streiter, Lisa Taferner und Alexandra Zublasing; 18 Geschichten. Ein einziges Mal führt eine dieser Geschichten, wie seinerzeit die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, hin zu einem Merksatz: „Nur wer an Wunder glauben kann, begegnet ihnen irgendwann“; Barbara Kaufmann hält diesen Satz in ihrer Erzählung fest. Ebenso ausgefallen, auch auffallend: das Genre der Satire; die Erzählung Ausdauer und Disziplin von Anja Prünster ist schon deshalb hier herauszuheben. Die Strategie, im rechten Moment eine Pointe zu setzen und lakonisch Kontra zu geben, wo sonst die Worte leicht versagen (so wie die Spartaner das angeblich souverän beherrscht haben), diese Verfahrensweise wird in der Geschichte Herz oder Laub von Anna Zendron besonders wirkungsvoll genutzt. Was aber die Technik der Komprimierung, der Verdichtung, der Reduktion auf das Wesentliche zu leisten vermag, das erweist sich schließlich anschaulich in der short story Die Milchstraße von Lucia Villotti; da steht kein Wort zu viel, stattdessen Vieles, worüber weiterzudenken sich lohnen würde. Eine krasse Geschichte.

Johann Holzner

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Horst Schreiber/Monika Jarosch/Lisa Gensluckner/Martin Haselwanter/Elisabeth Hussl (Hg.): Zwischentöne. Gaismair-Jahrbuch 2016
Innsbruck: Studien Verlag 2015

© Studien Verlag, 2015Die Gaismair-Jahrbücher erscheinen seit 16 Jahren. “Gaismair liegt quer zum offiziösen Geschichtsbild des Landes Tirol. Eben deshalb ist er ein guter Name für alle, die auch quer liegen zu den herrschenden Verhältnissen im Lande Tirol”, schrieb Anton Pelinka im Vorwort zur ersten Ausgabe im August 2000. “Tirol: Gegen den Strom” hieß konsequent ihr Titel. “Demokratie”, klären die Herausgeber auf Seite 2 der nunmehr 16. Ausgabe auf, “ist nicht nur eine Frage technokratischer Verfahren, sondern eine Frage der Möglichkeiten politischer und ökonomischer Mitbestimmung aller Menschen, des sozialen Einschlusses, der Geschlechtergerechtigkeit und der antirassistischen Politik.” Dafür wird hier ein Forum geboten.

Seit einigen Jahren ist auch Literatur ein Bestandteil dieses Angebots, Christoph W. Bauer sorgt für den Inhalt und leitet ein. “Schwierig ist es”, liest man, “gegenwärtig Einleitungsworte für einen Literaturteil zu finden. [...] Wie dieser Zeit mit Literatur begegnen? Muss Literatur dies tun?” Er ist sicher nicht der Erste, der das denkt, fragt oder schreibt; seine Auswahl bietet aber nicht Betroffenheit als Antwort, sondern: “Literarische Texte, zumindest solche, die sich nicht dem Mainstream verschreiben, sind immer Zwischentöne. Sie müssen nicht Antworten auf die vorhin gestellten Fragen liefern, sie sind diese Antwort.”

Wenn man sie liest, Renate Aichinger, Regina Hilber, Rudolf Kraus, Christina Rainer, Michaela Reinisch, Gerhard Ruiss und Nicolette Zambelis, sieben Beiträge also, merkt man, was er meint: sprachlich austarierte, geschliffene Texte, die anders klingen, als die abgedroschenen Töne, die es einem täglich um die Ohren haut. Die Zwischentöne machen die Musik, und so wenig davon heutigentags veröffentlicht wird, umso viel mehr sollte man sich darauf einstimmen lassen. Anders ausbalanciert sind die gesellschaftspolitischen Beiträge dieser Broschur. Themen sind “Flucht”, “KurdInnen in Kurdistan - KurdInnen in Österreich”, “BarackenbewohnerInnen, Lagerinsassen und Jenische” und “Zwischentöne”. “Die Liquidierung der Tabakproduktion in Österreich: ‘Das ist erfolgreiche Privatisierung zum Wohle des Unternehmens, zum Wohle der Beschäftigten’” heißt ein Aufsatz dieser Zwischentöne, der klar zu Gehör bringt, dass Slogans, die gut klingen, Ohrwürmer sind, die alles, aber vornehmlich die Stimme der Vernunft übertönen. Wenn man seine Ohren davor schonen möchte, muss man zwei Dinge lernen: weghören und das, was die letzte Zeile eines Gedichts von Rudolf Kraus im Literaturteil nahelegt - “du must nur einmal richtig zuhören”.

Bernhard Sandbichler

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Raoul Schrott: Die Kunst an nichts zu glauben
München: Carl Hanser Verlag 2015 

Rezensionen von Joe Rabl und Bernhard Sandbichler

 

© Carl Hanser, 2015Raoul Schrotts „Die Kunst an nichts zu glauben“ steht in der Tradition, alte Quellen zu befragen – wobei in diesem Fall durchaus unterstellt werden darf, dass die Quelle, auf die er sich bezieht, Teil der Fiktion ist. Wie der Leser den einleitenden Ausführungen entnimmt, ist Schrott in der Biblioteca Classense in Ravenna auf ein Manuskript gestoßen, das „Manuale Dell’ Esistenza Transitoria (De Arte Nihil Credendi)“, ein Werk aus der Zeit um 1700, das der Finder/Autor in einen Kanon atheistischer Literatur einreiht, um es sodann ins Deutsche zu übertragen und mit eigenen Gedichten darauf zu antworten. Fiktion oder nicht – wer möchte es so genau wissen, statt die kunstvolle Konstellation zu genießen; und was würde eine Antwort auf die Frage grundlegend ändern? –, wesentlich ist der fruchtbringende Dialog, den Schrott solcherart in Gang setzt.

Sowohl die Auszüge aus dem „Manuale“ als auch die Gedichte können als Bestandsaufnahme gelesen werden, als Selbstvergewisserung ohne Ausflucht in religiöse Deutungen und Tröstungen („… alles leid resultiert aus dem glauben / sich seines unglücks erwehren zu müssen / statt schönheit im scheitern zu finden …“). Ein mosaikartiges Panorama des hic et nunc, verdichtet in poetischen Kurzporträts „ganz normaler“ Menschen (der Busfahrer, die Kassiererin …), das dem Prinzip des Göttlichen eine profane Sicht entgegensetzt. Der Dichter nennt die Dinge beim Namen, er bringt sie auf den Punkt; die Poesie, fern jeglichen dogmatischen Impetus, generiert so eine höchst diesseitige Moral. Die Sentenzen und Verse beziehen sich – einmal mehr, einmal weniger vordergründig – aufeinander, sie kommentieren und hinterfragen einander, es gibt unterschwellige Korrespondenzen, auch über viele Seiten hinweg. Die „historische Beglaubigung“ verleiht den Aussagen quasi zusätzliches Gewicht. Und so ist das Spiel, das der poeta doctus Raoul Schrott mit dem Leser treibt, jenes, sein atheistisches Manifest („… ich dem jede religion fremd der aus den reihen verstossen und doch heilig ist: profan …“) mit den Mitteln der Poesie ins Werk zu setzen, was darauf hinausläuft, die Poesie selbst als moralische Haltung zu legitimieren.

Dazu bedarf es keiner Neuerfindung der Poesie, es genügt, sich auf ihre Stärken zu besinnen. Das kann zum Beispiel bedeuten, unseren oberflächlichen und mitunter von diversen vorgefertigten Meinungen verstellten Blick aufzubrechen und uns wieder zu genauem Hinschauen zu nötigen. „Ein Flüchtling“ heißt eins dieser Gedichte, das unsere Alltagswahrnehmung wieder scharf stellt – auch und gerade, weil es einen „Lebenslauf“ aufruft, dessen erschreckende Kürze sich dem Leser in einem einzigen eindringlichen Bild ins Gedächtnis einbrennt; das Bild eines frischen Grabes auf dem Gilf-el-Kebir-Hochplateau im Südwesten Ägyptens an der Grenze zu Libyen, daneben die kläglichen Reste eines Lebens, das an diesem unwirtlichen Ort sein Ende fand. „… unerträglich weiss / der himmel nun vor einem ziel / das kaum je mehr war als die aussicht auf anderes als almosen / in der tasche gesicht und name auf einem ausweis / aus eritrea – vormals italienisch abessinien – / und eine telefonnummer in mannheim . er wurde 17 jahre alt …“

Zeilen wie diese hallen lange nach und geben jenen ein Gesicht, die uns durch die Bilderflut der Medien und das Gerede von „Flüchtlingsströmen“ und „-lawinen“ ins Unkenntliche und Abstrakte gerückt werden. Das ist auch ein Kommentar zur Gegenwart, aber einer ohne den Zeigefinger des Schulmeisters und ohne das Pathos des Moralisten; die Verse sprechen für sich, sie überzeugen durch ihre sprachliche Kraft und ihre Konzentration aufs Wesentliche. Das Bild, das sie evozieren, macht Unbegreifliches konkret fassbar und weitet sich von da ins Allgemeine: „… das leben ein ruder . ein leckgeschlagener nachen / inmitten einer verlandeten see / der wind murmelnd in so vielen unverständlichen sprachen …“

Das geht nicht immer in dieser Makellosigkeit auf, weil Raoul Schrott mitunter zu viel will – aber vielleicht ist ebendas ein Charakteristikum seiner literarischen Arbeit, dass er immer aufs Ganze geht, und was wäre das auch für eine Literatur, die sich mit weniger begnügte? – und weil er sich durch den Endreim manchmal doch zu sehr einschränkt; aber das sind nur Wermutstropfen, die den Gesamteindruck nicht zu trüben vermögen: Hier schaut einer genau hin und er hat uns auch etwas zu sagen, und das tut er über weite Strecken auf überzeugende Art und Weise.

Joe Rabl   
     


 
Allerlei Erfindungen

Die Erfindung der Menschheit

© Carl Hanser, 2015Bei Einbruch der Dunkelheit am Vorabend des 23. Oktobers 4004 v. Chr., an einem Sonntag, begann Gott die Welt zu erschaffen. Am darauffolgenden Samstag war das Werk vollbracht. James Ussher, Erzbischof im nordirischen Armagh, erfand 1650 dieses genaue Datum, indem er die Bibel akribisch durchforstete, die Lebensalter sämtlicher Nachfahren von Adam und Eva addierte und mit anderen Daten kombinierte. Aus Usshers gut 6000 Jahren Menschheitsgeschichte sind aufgrund archäologischer Funde seitdem beinahe unvorstellbare zwei Millionen Jahre Menschheitsgeschichte geworden. Denn man hat in freiliegenden Gesteinsschichten der Olduvai-Schlucht, einem tiefen Einschnitt in der flachen Savanne im Norden Tansanias, uralte, wirklich uralte Werkzeuge entdeckt – und die hatte kein anderer erfunden als der Mensch. Die Wiege der Menschheit liegt also nicht im Garten Eden, sondern in Afrika. Raoul Schrott weiß das zumindest seit seiner Reise in die Fünfte Welt (2007). Warum ein Landschaftsmarmor aus Florenz, 50 Millionen Jahre alt, den Schutzumschlag seines neuen Gedichtbands illustriert?

Die Erfindung der Götter

Dies, denke ich, muss offen bleiben. Nachvollziehbarer hingegen ist das Religiöse, das der Mensch erfand, als er sesshaft wurde und für den Ackerbau Naturphänomene zyklisch wohlstimmen musste, um saftige Ernten einzufahren. Geburtstag, Silvester, Die längste Nacht, Die Nacht - Der Mond, Sonnenstand, Der Blick Gottes, Zeitläufte, Das sichtbare Universum, Statistik: Es sind Zeit-Phänomene, die hier titelgebend, inhaltlich und lyrisch betrachtet werden, neben bzw. zwischen einer Reihe “miniatouristischer” Berufsporträts, die – das liegt nahe – ebenfalls titelgebend, inhaltlich und lyrisch betrachtet werden. Ackerbauern finden sich nicht darunter, auch keine fleiß- und industrieartigen Berufe Artmann’scher Prägung, sondern durchweg zeitnahe Individuen wie “EIN INFORMATIKER AUS DEM SENEGAL” oder “EIN FLÜCHTLING [...] aus eritrea - vormals italienisch abessinien”. Und sie gehen einem nahe (besonders folgende beiden Profile: “Alleinstehend - Weiblich - Ende vierzig” und “In Scheidung - Männlich - Anfang vierzig”), mit ihren nahen oder voneinander abgerückten reinen Reimen: figur-abfuhr, positur-wildspur, besichtigen-beschwichtigen-berichtigen-bezichtigen.

Die Erfindung der Poesie

Derart augenzwinkernd spricht dieses lyrische Ich allenthalben: “küsse auf kalte haut ⋅ der asphalt” oder “das carnet de passage unserer vorläufigen existenz / bietet für solch subjektive notizen den reim / der folgenden zu allem passenden sentenz: / jeder tag ist eine reise ⋅ und in ihr bist du daheim”. Dem allem gegenübergestellt liest man Auszüge aus dem Manuale Dell’ Esistenza Transitoria (De Arte Nihil Credendi) eines gewissen Matthias Knutzen, das dem Gedichtband den Titel gibt. All das (wie auch sämtliche Ausführungen am Beginn) dürfte im Bregenzerwald, März 2015 erfunden worden sein – gut erfunden und augenzwinkernd gen Himmel schauend wie jener einzige Unzeitgemäße des Gedichtbandes, “Der Säulenheilige”: “er wusste nicht mehr wie hinab zur erde steigen / der schwindel hielt ihn oben / heilig sein hiess zu den klüften des himmels aufzuschauen / hoffend es würde sich eine jakobsleiter zeigen”.

Bernhard Sandbichler

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Jörg Zemmler: papierflieger luft
Wien: Klever Verlag, 2015

© Klever, 2015Bei FM4 hat er den Protestsongcontest gewonnen, bei Ö1 den Lyrikwettbewerb „hautnah“, er verfasst Drehbücher und Gedichte, malt, bastelt Videos, installiert Klänge und Objekte, macht Sound Poetry und war einmal Ö-Slam-Meister – die Vielseitigkeit von Jörg Zemmlers künstlerischer Ausdrucksfähigkeit ist beachtenswert. Wenige Monate nach der Veröffentlichung von „Own Standards“, dem neuen Album des Elektro-Pop-Duos „Sunday Bob“, das Zemmler gemeinsam mit Peter Pichler bildet, erschien im Herbst 2015 sein Gedichtband „papierflieger luft“.
Luft enthält der Band reichlich und zwar zwischen den Wörtern, denn meist zieren nur wenige davon die unnummerierten Seiten – Seitenzahlen vermeidet Zemmler genauso wie Gedichttitel, Großbuchstaben, fixe Metren und einheitliche Strophenformen. Diese Absage an formale Konventionen scheint der Autor selbst in seinem Werk zu thematisieren: „oh / ihr / sonettenschreiber / oh ihr reimer“, heißt es da irgendwo im Band und auf der nächsten Seite: „so oft / wiedergekaut / immer noch nicht / verdaut / es schmeckt nicht mehr / wer traut sich / spucken“. Ob diese beiden Textausschnitte Teile eines oder mehrerer Gedichte sind, ist allerdings schwer zu sagen, wie so oft in Zemmlers Band, in dem es kaum Verszeilen gleicher Länge und Ausrichtung gibt, die Wörter und Satzfetzen über das Papier verstreut liegen. Wo ein Gedicht anfängt und wo es aufhört, ist daher nicht immer eindeutig zu sagen. Diese freie Verteilung der Wörter kann die Leichtigkeit vermitteln, die der Titel des Bandes suggeriert, kann an einen Papierflieger erinnern, der vom Luftstrom fortgetragen wird. Sie kann den Wörtern aber auch die Wuchtigkeit von Monolithen verleihen, sie bedeutungsschwer und überladen wirken lassen.
Beliebig wirkt die Platzierung der Wörter auf den Seiten jedenfalls nicht. Es ist viel mehr unverkennbar: Zemmler, der sich unterschiedlichster Kunstformen bedient, in seiner künstlerischen Arbeit immer wieder verschiedene Medien miteinander verknüpft, geht es bei „papierflieger luft“ auch um das Visuelle, um das optische Erscheinungsbild seiner Gedichte. Zum einen scheinen hier ästhetische Überlegungen dahinterzustecken, denn es ist nicht zuletzt ihre äußerliche Form, die den Texten einen besonderen Reiz verleiht. Zum anderen strukturiert ihre Anordnung die Beziehungen zwischen den Wörtern. Einerseits werden hierbei Hierarchien erkennbar. Manchen Wörtern wird im wahrsten Sinne des Wortes mehr Raum gegeben als anderen. Ihre isolierte Stellung am Papier verleitet die Lesenden zum Innehalten, zum Verweilen bei diesen einzelnen Wörtern. Auf die Unterbrechung des Leseflusses folgt unweigerlich eine Entfremdung. Sonderbar wirkt nun der Klang der alltäglichsten Wörter, Unsicherheit bezüglich ihrer Bedeutung kommt auf. Zemmlers Gedichte regen somit zum Nachdenken, zum Nachhören an – auch das Akustische spielt darin also eine Rolle.
Neben der Hervorhebung einzelner Wörter dient die Anordnung des Textes oftmals auch dazu, Verknüpfungen herzustellen. Die bewusste Platzierung von Versen führt zu Bedeutungszusammenhängen zwischen ihnen. Zemmler verwendet dann eine Art Flächensyntax: Die lineare Leserichtung von links oben nach rechts unten wird zum Teil unterwandert, semantische Beziehungen zwischen den Wörtern oft erst durch das freie Schweifen des Blickes erkennbar.
Das ist nichts Neues. Ähnliche Ansätze gab es etwa schon in der Konkreten Poesie vor mehr als sechzig Jahren und der Vergleich mit dieser literarischen Strömung, die ihre Wurzeln in der Konkreten Malerei und dem Dadaismus hatte, dürfte nicht zu weit hergeholt sein: Auch Zemmler geht es in seinem Band um das sprachliche Experiment, um die Arbeit mit dem sprachlichen Material, um die Untersuchung dessen visueller und akustischer Komponenten und jener Mechanismen, die zur Generierung von Bedeutung führen.
Zemmler setzt dabei nicht auf das Entwerfen großartiger sprachlicher Bilder, nicht auf hochtrabende stilistische Feinheiten, sondern auf die Alltagssprache. Diese nimmt er auseinander, setzt sie neu zusammen, untersucht ihre Wirkungsweisen und entlarvt ihre Unzulänglichkeiten. Nicht metapherngetränkt, sonder stark reduziert ist diese Sprache, auf ein Minimum, das notwendig ist, um Geschichten zu erzählen, denn das tut Zemmler, wenn er etwa schreibt: „waggone / ein zug / taschenlampe / an“. Die Leerstellen in Texten wie diesem sind groß. Doch obwohl das Gedicht kein einziges Verb enthält, ist dennoch ein erzähltes Geschehen denkbar – dieses auszukleiden und zu konkretisieren ist dabei der Phantasie der Lesenden überlassen.
Bisweilen muten Zemmlers Texte nachdenklich an, öfters aberwitzig und häufig kehrt sich das scheinbar Nachdenkliche im letzten Moment –  in dadaistischer Manier – ins Absurde. Immer wieder wird dabei auf die Funktionsweise von Sprache, ihre Konventionen und Ungenauigkeiten hingewiesen, etwa wenn Zemmler Redewendungen abwandelt – „und alle tassen / in deinem schrank / sind gleich“ – oder mit Doppeldeutigkeiten spielt – „es scheint / die lampe / wie sie ist“.
Das kann spannend sein und unterhaltsam, erscheint phasenweise geistreich, zum Teil aber auch großspurig und verkopft und wird dadurch anstrengend und ermüdend. Weil Zemmler die gleichen sprachlichen Experimente anstellt wie schon Generationen vor ihm und sich folglich entschieden hat für „die kunst / das gleiche noch / einmal zu machen“, wirkt er konservativ, was nicht zwingend schlecht ist, aber die Frage aufwirft, ob ein solcher Band einem so vielseitigen und innovativen Künstler gerecht wird, und zu eigener Dichtung verführt: oh / ihr / konkreten dichter / oh ihr experimentierer...

David Winkler-Ebner

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