28.-30.7.2017 – Finnland, danach
28.7.2017
Finnland ist gewesen.
Ankommen geht leicht, zurückfinden ist schwer.
Ich stolpere fast über eine Maus, als ich am Morgen ins Haus gehe. Sie hat sich in dieser Nacht durch den Bürstenstreifen, der den Spalt zwischen Haustür und Boden schließen soll, durchgebissen. Die Weinbergschnecke, die ich nachts auf dem Weg in mein Haus getroffen habe, ist verschwunden. Vögel schreien sehr laut. Das tun sie schon seit ein paar Tagen. Oben kreist der Mäusebussard. Wir haben Angst.
Und ich stecke frischen Käse in die Fallen.
Inzwischen ist alles, was ich zum Leben mit meinem Auto brauchte, wieder verräumt. Der Hund kann nicht mehr ins Auto zurückspringen, was er gerne tut, solange die Türen offen sind. Sie sind wieder zu.
Die Kleidungsstücke aus Uusikaupunki, die so gut zu mir passen, wie noch nie etwas zu mir gepasst hat, bleiben vor dem Schrank, warten. Auf dem Küchentisch liegt eine Europakarte, auf der St. Petersburg noch Leningrad heißt und wo es viele Fähren gibt, die google leider schnell vergessen lässt.
Ich laufe zwischen der Karte und dem Rechner hin und her und denke, was bis vorgestern, gestern noch undenkbar war – niemals werde ich wieder soviel Auto fahren! – mich durch Schweden nach Finnland. Und schon ist die Aufregung da, die von dem Neuen kommt. Ich mag sie nicht loslassen – sie lässt mich nicht los.
Als ich auf den Skandinavienkai in Travemünde zufuhr, war es, als läge ein neuer Erdteil vor mir. Ich würde ein neue Grenze überschreiten. Die Welt ist weit und Rettung lauert überall ?
Den Satz fand ich auch mal gut. Aber kann ein Satz gut sein, der für so viele Menschen nur zynisch, höhnisch oder tödlich ist?
Rettung hin oder her: Finnland soll wiederkommen. Ich bestelle finnische Krimis.
Ich bin zwischen Finnland und Lettenbach hängen geblieben und habe meinen Platz noch nicht wieder gefunden.
Was soll das?!? Für diesen Sommer ist das Reisen vorbei. Mein Leben ist jetzt hier – auch wenn es schwer zu ertragen ist bei 35 Grad.
Es braucht seine Zeit, die Fäden wieder aufzunehmen, die überall herumhängen.
Pauls Sohn anrufen, fragen, wie es ihm geht.
Dass die Trauerfeier schön war, erzählt er, und schade, dass ich nicht dabei sein konnte, aber ich hatte es ihm ja gesagt. Ich will noch wissen, ob er die angefragte Hilfe meines Freundes aus Bosnien braucht.
Nein, sie werden Pauls Haus verkaufen, ohne es zu renovieren.
Jetzt haben sie die große Aufgabe, es leer zu räumen. Das kann ich mir vorstellen. Wohin gehen die vielen Bücher? Diese Frage kann ich nicht mehr stellen, das Gespräch ist schnell zu Ende, als eine Nachbarin neben mir steht.
29.7.2017
Finnland wirkt nach.
Im Rechner hängen Briefe.
„Wo bist Du?“ habe ich immer durch meine vielen SMS:s gerufen. Rufe, auf die nur das Echo der Wälder antwortete.
Du, der Du nie zu erreichen bist. Ein Mensch, der alle, die zu nahe kommen, hinter sich lässt.Wenn ich an Dich denke, habe ich vor mir das stolze Bild einer eleganten Pariserin, die auf einem ‚cat walk‘ mitten im verwilderten Garten uns ihren Rücken zukehrt – gerade, als wir dabei sind, unsere Bewunderung und Liebe durch lauten Applaus zum Ausdruck bringen zu wollen.
Auch ein ICH in Dir, das nur selten auf die Bühne tritt.
…
Morgen fahren wir wieder nach Attu. Ich werde dort viel an Dich denken, wenn ich Deine Lieblingsplätze dort sehe: die zwei Stellen auf dem Felsen rechts, den Sandstrand, wo Du mit Jallah lagst, mit offenen Armen den Segen des Himmels entgegen nehmend, und – wenn die Sonne untergeht – den einzigen warmen Platz auf dem Felsen links (jetzt ist es herrlich warm überall, etwa 25 Grad).
…
Jetzt muss ich Schluss machen. Ich habe eine Sprechstunde bei einem Techniker, der mir einen passenden Rollator (Roller ???) aussucht. Eine Weste zur Unterstützung des Rückgrats habe ich schon bekommen.
Das über das Irdische.
Ich antworte:
Ja warum denke ich soviel an Dich, an Euch und die Tage, Wochen mit Dir und Deiner wunderbaren Familie. Habe verschiedene Antworten – aber vor allem ist es Dankbarkeit. Dass es so war, wie es war.
Aber wohin Nähe bei mir führt, hat man ja gesehen: ich vergesse mich.
Das ist immer so: wenn jemand kommt, der mir lieb und wichtig ist – das kam und kommt ja nicht so oft vor –, ist alles weg, was ich vorher und immer im Kopf hatte. Fällt mir erst wieder ein, wenn der oder die Andere weg ist.
Und auf dem Weg nach Helsinki wart Ihr noch lange nicht wieder weg. Da war ich noch ganz tief in unserem schönen letzten gemeinsamen Tag.Als ich Dir und Deiner Freundin mit meinem neuen Gewand so gut gefallen habe, da fand ich das ja toll – aber vielleicht war es doch nur ein Witz? Und ich würde mich lächerlich machen?
Mich drehen und nochmal drehen?!? Unvorstellbar! Da musste ich schnell weglaufen.
Aber Eure Bewunderung und Liebe habe ich dann doch staunend wahrgenommen – und nicht vergessen. Auch wenn ich mich noch immer darüber wundern muss.
Wie dem auch sei: Ihr kriegt mich so schnell nicht wieder los, denn eine meiner Eigenschaften, die Du – noch – nicht kennst, ist: ich bin treu.Dir wünsche ich, dass Deine Hilfen Dir helfen mögen – ganz besonders auch die mentalen.
Ich finde es bewundernswert, wie tapfer Du mit den Schmerzen umgehst. Ich wäre da nur ungeduldig, und das macht nichts besser.
Auch dann werde ich an Dich denken, wenn es mal nötig ist.Mit heißen Grüßen aus Deutschlands sonnigem Süden – puuuh!
Alles Liebe!
30.7.2017
Liebe Jaana,
warum kann ich nicht ein bisschen von dem Vielen, was ich über uns und Dich denke, öfter ins mail-Format bringen?!?
Ich habe keine Antwort und mache mir schon die Tatsache, dass ich diese Frage stellen muss, zum Vorwurf. Und Vorwürfe machen wir uns ja gerne …
Dabei haben sie gar keinen Sinn. Und sind eher kontraproduktiv, wenn es um Verstehen geht.
Ich denke oft an die Gespräche mit Dir, an Deine präzisen Fragen, die den Dingen in meinem Kopf immer wieder Anstöße gegeben haben. Das funktioniert nicht mit Mails.
Es war für mich eine große Überraschung, dass so etwas wieder möglich war, es ist eigentlich fast aus meinem Leben verschwunden.
Warum ist Finnland nur so weit, weit weg –wenn ich doch nur so schnell schreiben wie denken könnte – dann hättest Du mittlerweile ein ganzes Buch.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de