18.-20.10.2017 – geb. 19.10.1965
18.10.2017
Die vollends aufgeklärte Welt erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils.
Und die Kunst ist der Schmerz, nicht die Therapie.
Ich bin traurig. Anders kann ich meine schweren Arme nicht verstehen. Zu schwer, um die Hände ans Klavier zu bringen.
1965. Morgen war ich wieder allein. Die Trennung tat so weh. Man nahm mir mein Kind immer wieder weg. Ich durfte es nur so kurze Zeit halten, unbeholfene Stillversuche machen, dann war es schon vorbei. Für Stunden. Auseinandergerissen und alleingelassen, beide. Ich habe uns nicht schützen können. Es war furchtbar.
Rooming-in war ein neues Wort, aber für uns noch kein Ort. 1965.
Wie ich die Frauen immer beneidet habe, denen man ihr Kind nicht mehr wegnahm.
Ich habe ihr das Leben gegeben – bis sie es nicht mehr wollte.
Hat sie es jemals gewollt? Ohne Angst? „Auf Psychose“ – das müssen ihre glücklichsten Zeiten auf dieser Welt gewesen sein. Da wollte sie wieder hin. 1994.
Ihr Geburtstag bleibt mein Jahrestag.
19.10.1998Heike hat nicht mehr Geburtstag. Heike wird nicht 33 Jahre alt.
Was kann ich tun. Für sie oder für mich. Oder für uns.
In Ostasien kochen die Angehörigen das Leibgericht oder Lieblingsessen des Verstorbenen und stellen es auf das Grab oder einen Altar.
In Benin, Westafrika, gibt es Bohnen und Whiskey für die Ahnen und Gedenkgesänge für die Reichen.
In Rumänien wird eine Flasche Wodka aufgemacht, daraus getrunken und dann wird der Wodka über der Grabstelle ausgeschüttet. Zuletzt bleibt die Flasche halbleer auf das Grab gebettet liegen.
Das letzte Bild des Films Gadjo Dilo: Stephan gräbt ein Loch in den Boden, legt die zerrissenen Musikkassetten hinein, bedeckt sie mit Erde und stampft sie fest. Er öffnet eine Flasche Wodka, trinkt daraus und schüttet sie über die Erde, dann stellt er sie darauf und tanzt und tanzt.
Sollte ich meinem Buch aufgebrochen ein Grab graben?
HEUTE werde ich Heikes Grab aufsuchen und eine Flasche Piccolo mitnehmen, daraus trinken und sie dann über das Grab leeren. Aber ich werde die Flasche nicht dort lassen. Das ist ein Unterschied.
Filme geben mir Bilder: den Sarg im Auto und den Schnaps auf das Grab.20.10.1998Den gestrigen Tag habe ich ganz und gar Heike geschenkt. Eine Stunde lang habe ich ihr Grab gesucht. Ich finde es niemals gleich, auch wenn ich mir beim Weggehen jedesmal etwas merke, um es beim nächsten Mal besser zu finden. Trotzdem ist es dann wieder verloren. Nach einer Stunde Suchen bin ich zum Friedhofsamt gegangen, wollte fragen. Da hatte ich noch eine halbe Stunde Mittagspause. So habe ich es noch einmal versucht und das Grab gefunden. Fast ganz am Rand und neben der Bank. Nr. 161 a.
Daß diese Bank neben ihrem Grab steht, ist gut. Ich kann mich zu ihr setzen. Eine Weile bei ihr sein. Den Platz für das Törtchen überlegen, das ich am Friedhofseingang ausgesucht habe, um es einzugraben. Das brauche ich gar nicht. Ich kann es unter den Blumen verstecken. Dort wird es zerfallen, bevor die Blumen verwelkt sind. Und ich mache den Sekt auf, trinke einen Schluck und schütte das Ganze über das Grab. Er schäumt einen Augenblick und ist er verschwunden. Ich kann weinen.
Dann bin ich unsere Wege durch die Stadt gegangen. K+L Ruppert, Café Drexl. Sehe wieder ihr ungläubiges Gesicht, als ich meine Wünsche sage. Höre ihre Frage, ob ich daran glaube, und mein bestürztes: aber ja!!!
An dem Tisch, wo wir uns zu diesem letzten Geburtstag getroffen haben, sitzen vier junge Frauen – Ende 20 – in schwarzen Pullovern, T-Shirts und Sweatshirts. Dicke und Dünne. Vier.Zuhause will ich allein mit ihr sein. Zünde eine Kerze an. Und das Weinen ist gut. Es war ganz ihr Tag. Es war ihr Geburtstag. Ich war ihr nah. Ich habe sie lieb.
Nun geht es auf den Todestag zu. Ein ganzes Leben zwischen dem 19. Oktober und dem 25. November. Fünfundsechzig Vierundneunzig. Ein Anfang und ein Ende.
Gestern war ihr Tag. Heute ist mein Leben.
20.10 2017
Ein neuer Tag. Es – das Leben? – geht weiter.
Er hat mal wieder Recht gehabt. Wie immer. Mit den schönen Tagen.
Der Garten leuchtet bunt unter der Sonne und täuscht Leben vor.
Ich habe wieder die Finger auf die Tasten bringen können, erst mal: wollen.
In den Sechzigern hat es angefangen, dass die Mutter an allem schuld war. Natürlich. Ich will schuld sein.
Und Schuld war als Erklärung für Unglück besser als nichts. Viel besser.
Auch das Buch, in das ich meinen Abschied von ihr gefasst habe – aufgebrochen – oder warum Ouagadougou (2000) – hat dieses Verständnis.
Als ich mich auch von dem Buch getrennt habe, stand mit dem Krebs plötzlich mein eigener Tod vor mir wie ein vom Blitz erhelltes Land. Der Frühling, den ich nicht mehr sehe.
Es war so ein grausamer Schmerz. Ich werde ihn nie vergessen.
Und irgendwann ein Gedanke, so einfach, fast lächerlich, dass ich mich wunderte, ihn so spät zu finden: Wenn ich auch sterben muss, ist es besser, mit der Hoffnung gelebt zu haben als mit der Angst.
Es ist gleichgültig, ob vor dem nächsten Frühling oder einem anderen.
Offen für neue Gedanken und andere Wege bin ich meiner Großen wieder begegnet. Sie hat schon auf mich gewartet.
Sie nimmt die Schuld von mir. Verlangt ihren eigenen Tod. Ihre Verantwortung.
„Das ist ganz allein auf meinem Mist gewachsen“ – sagt sie. Lass mich in Ruhe.
Sonst wäre es für sie schwer weiter zu kommen, ins Licht. Und es ist ihr ganz wichtig, dass es auch mir gut geht.
Danach sind es andere Geburtstage, traurig bleiben sie, aber es gibt auch Trost.
19.10.2005Du – liebe große Tochter, es ist neblig an deinem 40. Geburtstag.
Vor dem Wald hängt ein Schleier. Die Ahornblätter glänzen nass.
Aufgewacht bin ich vom Rufen eines Rotkehlchens oder Zaunkönigs oder Kleibers, der um mich herumgehüpft ist.
Auch so ein kleines Stimmchen kann ein Wecker sein.
Ich möchte dir viele, viele liebe Gedanken schenken, die dich umarmen wie die Flügel eines Storches, der nicht fortgezogen ist.
Seit du gegangen bist, geht es mir zum ersten Mal an deinem Geburtstag gut. Es ist eine neue gute Gewissheit, dass wir uns wieder begegnen werden, wenn auch meine Zeit hier vorbei ist. Und dass es dir jetzt gut geht, wo du bist. Ich bin dankbar, glücklich und froh, dass wir diesen Weg zueinander gefunden haben. Ich sehe dich, ich höre dich, ich kann mit dir lachen. Danke.
Das war also 2005.
Update 2017:
Vor ein paar Wochen meine Freundin, die mit den Übergängen vertraut ist, diesen Satz an mich weitergegeben: Schau! Die hab ich mir ausgesucht!
Das hat meine Große gesagt.
Wirklich?
Ich lerne zu verstehen: Sie hat, was ihr schweres Leben werden sollte, mit mir verbunden, es mir anvertraut.
Sie ist in mein Leben gekommen und sie ist wieder daraus gegangen.
Ich darf darauf stolz sein, dass sie mich gewählt hat. Es war eine große Aufgabe – für uns beide.
Erst am Abend dieses Geburtstags sind diese Gedanken wieder da.
Ich zünde ihre Kerze an und mache eine Flasche Wein auf.
Wo Schuldgefühle waren, ist jetzt Dankbarkeit.
Es ist spät geworden, bis ich uns so verstehen kann.
Das ist mal wieder ein Paradigmenwechsel, der dritte. (Das ist jetzt aber der letzte! -?)
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de