21.-23.10.2017 – weiterleben
21.10.2017
Noch so ein Tag, in dessen Wärme man sich kuscheln kann. Und das große bunte Leuchten.
Und jeder sagt es jedem, dass es der letzte ist in seiner Art für lange Zeit.
Es hat Zeiten gegeben, da bedeutete, über das Wetter zu reden, dass man sich nichts zu sagen hatte. Ende der Kommunikation.
Muss schon lange her sein.
Wenn es Herbst ist und dann Winter wird, werde ich, wenn ich mich verabschiede, um heimzufahren, oft gefragt: bist du da nicht einsam?
Es ist dunkel, und da, wo ich ankommen werde, ist niemand mehr. Nicht in Ruf- oder Sichtweite. Nur Wildschweine, Füchse, Igel, und… Waschbären.
Ich fühle die Abwesenheit von Menschen fast körperlich, wenn ich vom Auto zum Haus gehe.
Ich bin ganz allein. Aber ich bin nicht einsam.
In der Stadt bin ich überhaupt nicht allein.
Wenn ich die Stadt wieder verlasse, merke ich, wie einsam ich mich gefühlt habe.
Viele und ganz viele Menschen sind überall um mich herum. Ich kenne immer noch die guten Parkplätze, die Menschen kenne ich nicht.
Aber wo Menschen sind, ist auch gleich Hoffnung auf Begegnung, vielleicht Nähe.
Ich will immer mehr als Menschen geben können. Als ich geben kann.
Das bedeutet immer Enttäuschung.
Der gehe ich aus dem Weg und fahre wieder hinaus.
22.10.2017
Hier draußen kenne ich jeden, der von Zeit zu Zeit in seinen Garten kommt, und weil ich die Einzige bin, die hier lebt bei Tag und bei Nacht, werde ich immer gefragt, was es hier inzwischen Neues gegeben hat. Wie stark der Regen war, ob der Sturm etwas angerichtet hat oder die Wildschweine in der Nähe sind. Sind sie, sieht man doch.
Meinem ältesten Nachbarn – fast blind und bald 90 – habe ich versprochen, dass ich ihn und seine Frau nach Hause bringe in der Zeit, wo ihre Tochter nach einer Hüftoperation nicht Auto fahren darf. Der Enkel bringt den Opa heraus.
Für Yalla ist das die größte Freude, sie tanzt und jubelt, und der alte Mann ist glücklich. Wir lassen die Gartentore offen, so kann der Hund hin und her laufen, solange unser Nachbar da ist. Am späten Nachmittag fahre ich ihn nach Hause.
Als wir dann im Auto sitzen, erzählt er, wie er es macht, wenn er durch die Stadt geht, zum Einkaufen oder zum Arzt. Er kennt die Wege, nimmt möglichst Übergänge, wo Ampeln sind, aber ihr Licht sieht er nicht. So wartet er, bis jemand neben ihm ist, und er geht, wenn er merkt, dass der geht. Beim Bus fragt er den Fahrer, ob er dahin fährt, wo er hin will, beim Einkaufen andere Kunden, bei ALDI die Frau, die neben ihm steht, als er einen Hut probiert: wie schau i aus? Gut – sagt die, er nimmt den Hut, und gut schaut er aus.
Freundlich und friedlich, ohne Aufregung oder Auflehnung.
Mir ist nach weinen zumut. Soviel Schwäche und soviel Geduld. Und soviel Mitgefühl.
So geht es mir nur mit alten Männern, mit alten Frauen niemals.
Ein Rätsel: Die Gloi. Sagt der Nachbar. Was ist das? ( – die Lösung kommt übermorgen)
23.10.2017
Mein alter Nachbar scheint viel ruhiger als ich, die ich mich noch immer wehren will.
Ich denke: da komm ich nicht mehr mit. Die Zeit vergeht immer schneller und ist schon über mich hinweg, bevor ich abspringen kann. Das Bleiben ist eine ständige Überforderung.
„Da komm ich nicht mehr mit“ – haben das die Alten nicht immer schon gesagt? Auch damals, als 75 schon „alt“ war?
Man hat ein Wort erfunden: entschleunigen. Da sieht der Rechner rot und ich kann es gar nicht hören oder denken, ohne mich zu ärgern. Muss man so reden, um nicht bremsen zu sagen?
Ich verweigere mich dem Smartphone und seinen Vernetzungen. Ich würde mir damit nicht vernetzt, sondern verfolgt vorkommen.
Fürchte ich doch schon immer, wenn ich heimkomme, das Blinken des Anrufbeantworters und bin erleichtert, wenn er es nicht tut.
Ich muss nicht mehr dazugehören, wo ich nicht mehr folgen kann. Wo die Menschen hier und überall gleichzeitig sind, jederzeit aussteigen können. Und ich bleibe zurück. Ist es das, was ich fürchte?
Ich frage mich aber auch, wie Menschen sich verändern mit diesen schnellen Möglichkeiten.
Mit einem Gerät für manische Abwehr von Alleinsein (Wolfgang Schmidbauer) ist Frustrationstoleranz gar nicht nötig. Du kannst jederzeit abbiegen, wenn es unangenehm wird oder zu lange dauert oder beides.
Man muss auch nicht mehr lernen, dass das lebenswichtige Objekt weiter besteht und wiederkommt, auch wenn es gerade nicht da ist. Kann man doch sofort nach anderen kleinen Objekten greifen. Man muss nicht mehr warten können.
Ich finde, dass diese – unsere, auch meine – Begriffe nicht greifen. Frustrationstoleranz, Objektkonstanz, Abwehr. Sie passen nicht mehr. Brauchen ein Update. Wahrscheinlich gibt es das schon.
Und es werden andere Menschen sein.
Auch ich habe erst ein paar Spiele am Rechner gemacht, als ich mein wichtigstes Objekt – 2017 – überhaupt nicht sehen, geschweige spüren konnte. Dann wollte ich mit der Arbeit anfangen. Und jetzt würde ich am liebsten den Fernseher anschalten anstatt eine Runde zu gehen – the legs are the wheels of the thoughts. Das hat doch immer geholfen.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de