4.-11.12.2017 – Natur ist modern
4.12.2017
Natur ist modern. Der Vollmond bekommt als Supermond die erste Meldung im MoMa – so nah, so groß wie selten.
Wer ihn nicht gesehen hat, wird auf den nächsten vertröstet am 2. Januar.
Jetzt sagen sie mir schon mit den Nachrichten, wann unsere Zeit abgelaufen ist: Der nächste Vollmond gehört nicht mehr zu ohnesinn 2017.
Bei mir war der Mond verhängt von den Wolken, die Schnee gebracht haben. Feiner fliegender, nicht fallender Schnee hat mein Bett auch unter der Markise zugedeckt.
Kalt war mir nicht, nur ungemütlich im Versteck der dicken Mütze mit schmalem Sehschlitz, weil mich sonst die feinen Stiche der Flocken nicht schlafen lassen.
Für die Chronik 2017: am 4. Dezember ziehe ich mit dem Bettzeug ins Haus.
Denn ich bin krank. Hals und Nase und alles. Da brauche ich auch am Tag ein Bett im Haus. Hinter den großen Fenstern der Veranda richte ich mich ein, wo ich den besten Blick auf meine Gäste habe, die zum Frühstücken kommen, wenn es hell geworden ist.
Wenn ich nicht früher als sie aufstehen würde. Vielleicht ist das die Zeit, den Kaffee mit ins Bett zu nehmen.
6.12.2017
Schon allein die Vorstellung, etwas zu tun, etwas in die Hand zu nehmen oder etwas zu schreiben, ist viel zu anstrengend.
8.12.2017
Aber auch das: An dem Tag, wo ich spüre, dass sich die Krankheit zurückzieht, könnte ich nicht glücklicher sein. Wenn das Leben wieder sichtbar wird, noch hinter Glas, aber schon wirklich. Da könnte ich vor Freude – wäre ich nicht so nüchtern – in die Hände klatschen.
Gestern Abend habe ich mich dick eingemummt in einen uralten Pelz, der schon anfängt sich aufzulösen, hinausgesetzt, als ich sah, wie viele Sterne da oben strahlten. Und es dauerte nicht lange, da fiel eine Sternschnuppe in einem langen, hell leuchtenden Streifen in meine Kiefer.
Natürlich war ich bei dieser Überraschung nicht vorbereitet auf einen Wunsch. Hatte aber trotzdem das Gefühl, dass da einer war. Etwa so: dass ein bissel bleiben möge von so einem Glück. Oder manchmal wiederkommt. Sonst nichts.
9.12.2017
Das ist ja schon Übermut: ich bin ins Theater gefahren zu paradies fluten.
Und bringe ein neues Wort mit ins Haus: Dystopie. Das hat mir gerade noch gefehlt.
Mein neuer Name für das, was ist oder kommen wird? Die Anti-Utopie?
Das Gegenteil vom Geist der Utopie. Und vom Prinzip Hoffnung. Irgendwo im Noch-Nicht. Und kein Ort, nirgends.
Dystopie. Es ist wie eine Umkehr meiner Geschichte mit Hegel, Marx und Bloch und Christa Wolf.
Wahrscheinlich ist diese Geschichte einfach schon zu alt. Viel zu alt. Und ich bin hängen geblieben.
Was mich oft zum Lachen bringt, wenn ich mich mit Yalla sehe, ist das Staunen, dass das Objekt meiner Liebe, die sich nicht anders anfühlt als jede Liebe, die ich gelebt habe – ich habe da offenbar keine Auswahl – dass dies so ganz anders aussieht. Dass es als Hund daherkommt. Ist doch komisch. Zum Lachen.
Ich bin mir nicht sicher, ob da nicht doch etwas ganz anderes, jemand ganz anderes, drinsteckt.
Jetzt habe ich mich doch erwischen lassen, weil ich den jährlichen gynäkologischen Termin noch nicht ganz gestrichen habe. Das war halbherzig. Ich hätte nicht mehr zur Gynäkologin gehen dürfen.
Jetzt lässt mich die Ärztin, die bisher mein Ich-will-es-nicht-mehr-Wissen akzeptiert hat, nicht mehr in Ruhe. Spricht von späten Nebenwirkungen von Tamoxifen: ein Polyp in der Schleimhaut der Gebärmutter. Ausschabung. Meinetwegen. Und verhärtetes Narbengewebe in der operierten Brust. Sie muss mich zur Mammographie schicken, sagt sie. Damit finde ich mich nicht so leicht ab. Aber wenn ich ständig daran denke, warum ich es nicht mache, ist es noch blöder. Also lasse ich mich schicken und mache einen Termin. Zeitnah wird akzeptiert. Nächste Woche.
Ich bin überraschend ruhig dabei. Keine Spur von Herzklopfen wie immer bis vor fünf Jahren, als ich den Entschluss für das Nicht-Wissen fasste. Etwas ist anders geworden.
Angenommen da ist wieder ein Tumor, dann kann ich sagen: Das ist mein Ausgang. Keine OP, keine Bestrahlung. Das kann ich – wissend – entscheiden.
Aber ob ich noch einmal die Gynäkologin aufsuchen werde – das muss ich mir gut überlegen.
Für die Mammo muss ich wieder in das Haus, aus dem meine Große gesprungen, geflogen, gefallen ist.
10.12.2017
Heute kommen sie wieder geflogen, meine Vögel. Mit den Schneeflocken zusammen.
Wo mögen sie gestern gewesen sein? Und vorgestern?
Als es am Futterplatz so ruhig war und nur ab und zu mal eine Meise kam, da konnte ich nicht anders, musste diesen sinnlosen Gedanken denken, ob ich wollte oder nicht: Vielleicht kommen sie nicht wieder.
Jerusalem. Ach, Jerusalem. Die bösen Nachrichten.
Warum tut diese Stadt immer wieder so weh. Warum wird ihr immer wieder so weh getan?
Es gab eine Hoffnung in Jerusalem. Habe ich einmal geschrieben.
Und auch da war das schon nur eine Erinnerung.
Warum macht er das, der mächtigste Mann der Welt? Und einer der verrücktesten?
Es werden wieder Menschen sterben in diesem verheißenen Land. Wie immer im Verhältnis 10:1. So viel und so wenig, wie Leben dort wert ist.
11.12.2017
Das Sechs-Uhr-Läuten, das mir das Zeichen zum Aufstehen geben soll, hat das Rauschen des Regens verschluckt.
Und schon wieder ist der Schnee nur noch Erinnerung. Die gnädige weiße Decke, die sich gestern in wenigen Stunden über die Äcker ausgebreitet hat, ist mit Regen gleich wieder verschwunden. Der nasse Acker, in dem es weniger Biodiversität gibt als im Beton – so mein Oberförster – ist wieder nackt. Wie soll man so ein Wissen aushalten? Wie halte ich das aus, wenn es immer vor meinen Augen liegt.
Nur noch wenige weiße Flecken auf meiner Wiese erzählen von gestern. Dabei war es ein Winterüberfall mit allen Schikanen. Schon beim ersten Bremsen kracht und knirscht es vorne im Auto, dass ich am liebsten sofort stehen bleiben möchte im Schneetreiben neben den schleichenden Autos. Fahre aber weiter, bremse nur noch mit dem Gang, weil ich meine Verabredung einhalten will, mit 10 km/h komme ich sowieso zu spät.
Gleich laufen Pläne durch meinen Kopf: wenn das Auto…
Die Klavierstunde, der Mammotermin, unsere „Weihnachtsfeier“ – ein Essen beim Griechen mit meiner Tochter und ihrem Mann. Ich würde so gerne kein Auto brauchen. Aber dafür hätte ich mich nicht so weit von den Häusern und den Menschen entfernen dürfen. Den Weg zu mir würde heute jedes Taxi verweigern.
Ich bin schon an der Werkstatt, als der Monteur aufschließt. Die Bremsen krachen heute nicht, und die Entwarnung kommt schnell: zu 95% waren sie nur festgefroren, meint der Monteur, nachdem er die Bremsbeläge mit einer Taschenlampe kontrolliert hat. Wenn’s nochmal kracht, soll ich wieder kommen.
Auf dem Heimweg höre ich im Radio, dass heute Steinmeier in Ghana ist. Deutschland zeigt Interesse an Afrika: vorige Woche die Kanzlerin in Abidjan, jetzt der Präsident in Accra.
Ob er dort über den Markt geht, wo das, was wir von den Hühnern nicht mögen, inzwischen angekommen ist?
Wie immer im Verhältnis 10:1
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de