Autoren-Archiv: Arno Schmidt

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas

13. Dezember 2012

Schmidt-SeelandschaftAls »Seelandschaft mit Pocahontas« 1955 in Alfred Anderschs Literaturzeitschrift »Texte und Zeichen« erschien, wussten wohl nur ganz wenige der ohnehin nicht so sehr zahlreichen Leser, wer Pocahontas war. Aufgrund der gleichnamigen Disney-Operette dürfte der Name heute bei den meisten Menschen süßliche Assoziationen an eine bezaubernde indianische Prinzessin auslösen. Arno Schmidts Pocahontas stammt dagegen von der eher herben und unglücklichen Seite der historischen Person ab. Für Schmidt bestand die ganz persönliche Verbindung zur Biographie der Indianerin darin, dass sie bekanntlich dem englischen Kapitätn John Smith (»Es kann schließlich nich Jeder Schmidt heißn.« BA 1/3/403) das Leben rettete. Die Geschichte der Rothäutin, die in der Fremde leben musste und starb, kam ihm daher ganz recht, als er daran ging, einen sommerlichen Kurzurlaub mit seiner Frau Alice in ein Stück Literatur umzuwandeln.

Erzählt wird von den beiden Kriegskameraden Erich und Joachim (dem Ich-Erzähler), die sich – wahrscheinlich im Sommer 1953 – auf einen Kurzurlaub am Dümmer treffen. Joachim, der sich als Schriftsteller ärmlich durchschlägt, wurde von Erich, der als selbstständiger Malermeister mit »fuffzehn Geselln« gut etabliert ist, eingeladen. Dieses ökonomische Missverhältnis ist wohl auch der Grund, dass Joachim, als die beiden Herren am Urlaubsort Dümmerlohausen ein weibliches Urlaubspärchen aufreißen, die unattraktive, hoch aufgeschossene Selma abbekommt, weil Erich mit der handfesten und feisten Annemarie anbandeln möchte. Doch erweist sich die erzwungene Wahl schließlich als Glücksfall: In den vier Tagen, die Joachim und Selma miteinander verbringen, zeigt sich eine starke Seelenverwandtschaft der beiden. Sie lieben die Natur, sind lieber für sich als in großer Gesellschaft und teilen das Gefühl, in einem Leben und einer Welt gefangen zu sein, in die sie weder der Neigung noch dem Charakter nach passen. Trotzdem bleibt es zwischen ihnen bei einer kurze Sommerliebe:

Sie sagte es wild vor sich hin, »Was denn?«, blieb stehen, mit dem Rücken zu mir, den Kopf gesenkt: »Dich will ich! Noch was länger.«, und wir gingen betrübt weiter. Schüttelte aber doch streng die Fantasien weg: »Ja, wenn wir reiche Leute wären« (sachlich) »dann würds vielleicht gehen. Wenn ich immer nur die Pocahontas sein könnte. Und wir keine Sorgen hätten; Angst wegen Kindern und so. – Aber dann würdest Du Dir auch noch ne Andere aussuchen. Als mich –« sie sah sich an den Ästen um nach dem dürrsten Wort: »– Vogelscheuche!«, und blickte haßvoll und flehend: ?.

Aus dieser Konstellation heraus entsteht eine der schönsten, zugleich zarten und rabiaten Liebesgeschichten der deutschen Literatur, und der Text hat es verdient, jetzt mit einer ganz wundervoll reich illustrierten Einzelausgabe bei der Officina Ludi gewürdigt zu werden. Die Illustrationen von Felix Scheinberger liefern eine ganz eigenständige Spiegelwelt zum Text, in der sich sowohl die breiten Landschaftsschilderungen als auch die Fülle an Wirklichkeitsdetails, die einen wesentlichen Reiz der Erzählung ausmachen, wiederfinden.

Das Erscheinen der »Seelandschaft« war übrigens einer der Wendepunkte in der Existenz des Schriftstellers Arno Schmidt: Aufgrund einer Anzeige wegen Pornographie und Gotteslästerung gegen den Autor, den Herausgeber Alfred Andersch und den Luchterhand-Verleger Eduard Reifferscheid sah sich Schmidt gezwungen, aus dem katholischen Kastel in das liberalere Darmstadt zu flüchten. Die städtische Existenz in der Künstlerkolonie ging ihm bald derartig auf die Nerven, dass es ihn stark zurück in die geliebte Lüneburger Heide zog. Er suchte daher alle Mittel und Wege auf, von dort wieder fort zu kommen, und erwarb schließlich 1958 im Dörfchen Bargfeld bei Celle ein Holzhäuschen, in dem er die produktivsten Jahre seines Schriftstellerlebens verbringen sollte.

»Seelandschaft mit Pocahontas« ist überhaupt allen Lesern zu empfehlen, die es einmal mit Schmidt versuchen wollen, sich aber wegen des Mythos seiner angeblichen Unlesbarkeit bislang nicht getraut haben; und allen Schmidt-Kennern und -Liebhabern sei empfohlen, diese überraschende und wundervolle Ausgabe ihren Sammlungen einzuverleiben.

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. Illustrationen von Felix Scheinberger. Großhansdorf bei Hamburg: Officina Ludi, 2012. Bedruckter Pappband mit Leinenrücken, Fadenheftung, 170 g-Papier, 83 Seiten mit zahlreichen farbigen Illustrationen. 24,80 €. Vorzugsausgabe (100 Exemplare): 160,– €. Luxusausgabe (25 Exemplare): vergriffen.

P. S.: Wer mehr über die »Seelandschaft mit Pocahontas« erfahren möchte, kann bei Google books weiterlesen.

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Aus gegebenem Anlass (V): Arno Schmidt und der Venus-Transit

5. Juni 2012
›Das Unglück sei von diesem Haus so fern, wie der Morgenstern vom Abendstern‹, sollte der Zimmermann, beim ›Richtspruch‹, unserm Heim angewünscht haben; (»: ’fluchter Idijot!« hatte mein Großonkel, jedesmal wenn er’s erzählte, hinzugefügt).

Im Jahr 1956 schreibt Arno Schmidt den Essay »Das schönere Europa«, in dem in grober Übersicht die Anstrengungen der europäischen Nationen anläßlich des Venus-Transits vom 3. Juni 1769 geschildert werden.

Venus-Transite sind rare Ereignisse, wenn man an einen irdischen Standpunkt gebunden ist: Man kann sich leicht vorstellen, dass die beiden inneren Planeten – also jene, die innerhalb der Erdbahn unsere Sonne umkreisen – aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit die Erde regelmäßig innen überholen. Sie sind dabei allerdings nur äußerst selten zu beobachten, was daran liegt, dass die Planetenbahnen nicht alle genau in einer Ebene liegen, sondern leicht gegeneinander geneigt erscheinen. Und so stehen die Planeten Merkur und Venus nur sehr selten bei ihrem Vorbeigang zwischen Erde und Sonne so, dass sie von der Erde aus gesehen als dunkle Scheiben vor der Sonne erscheinen. Einen solchen sichtbaren Vorbeigang vor der Sonnenscheibe nennt der Astronom einen Transit. Dabei ist der der Venus der interessantere, da er länger dauert – Venus ist langsamer als Merkur – und die Venus deutlich größer als Merkur und zudem näher an der Erde ist, so dass ihre Beobachtung leichter fällt und die Ergebnisse präziser werden. Leider geschehen Venus-Transite nur etwa alle 105 bzw. 122 Jahre, dann aber gleich zwei Transite innerhalb von nur acht Jahren. Der vorletzte Venus-Transit war 1882 zu beobachten, der letzte im  Jahr 2004 und der nächste wird morgen eintreten.

Die Frage, die sich im 18. Jahrhundert mit Hilfe der Venus-Transite lösen ließ, war die nach den Abständen im Sonnensystem. Das dritte Keplersche Gesetz, das eine Abhängigkeit zwischen den Quadraten der Umlaufzeiten der Planeten und den Kuben ihrer mittleren Entfernung zur Sonne behauptete, war empirisch nicht zu überprüfen, solange man die Entfernungen der Planeten zur Sonne nicht genau kannte.

Nun hatte – wie auch Schmidt richtig schreibt – der englische Astronom Edmond Halley den dringenden Vorschlag gemacht, die für 1761 und 1769 vorhergesagten Venus-Transite dazu zu nutzen, die Entfernung der Erde zur Sonne zu bestimmen, von der ausgehend sich alle anderen Distanzen im Sonnensystem dann bestimmen lassen würden.

Bereits beim Transit von 1761 hatten die großen europäischen Nationen, vornehmlich England und Frankreich, die in der Astronomie des 18. Jahrhunderts führenden Nationen, nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen, das Ereignis zu beobachten. Es hatte bereits so etwas wie einen partiellen Waffenstillstand zum Schutz der wissenschaftlichen Expeditionen – die Großteils über See reisen mussten – gegeben. Die damals gewonnen Daten blieben aber weitgehend unzureichend und sollten nun vervollständigt werden. Schmidt betont z. B. zu Recht, dass es die erste Aufgabe der Expedition der Endeavour unter James Cook war, Astronomen der Royal Society nach Tahiti zu bringen, wo sie den Venus-Durchgang glücklich beobachten konnten.

Interessant an Schmidts Darstellung in »Das schönere Europa« ist hauptsächlich der politische Aufhänger, den Schmidt sich für dieses wesentlich astronomische Thema wählt: Die wissenschaftliche Leistung, die Schmidt in anekdotischer und detailverliebter Weise vermittelt, wird gerahmt durch die Feststellung, die führenden Nationen – mit Ausnahme Spaniens – hätten in diesem einen Fall einmal vorbildhaft zusammengearbeitet und einander unterstützt:

A.: Sechs Jahre vorher noch hatten sie nicht Fernrohre sondern Kanonen aufeinander gerichtet, diese Russen; Preußen; Engländer; Österreicher; Franzosen; und bald danach begannen sie wieder das alte blutige Spiel, unentwegt, bis heute.
B.: Aber einmal wenigstens war man doch, und auf’s Erhabenste, einig gewesen :
A. (mit Nachdruck): Siebzehnhundertneunundsechzig !
B. (desgleichen): Am dritten Juni ! [II/1, 274]

Einmal abgesehen von dem sprachlogischen Einwand, dass am 3. Juni 1769 besagte Russen, Preußen, Engländer, Österreicher und Franzosen ihre Fernrohre nicht aufeinander, sondern auf die Sonne gerichtet hatten, erscheint diese Rahmung des astronomischen Materials sehr gesucht. 1769 herrschte seit sechs Jahren Frieden zwischen den genannten Nationen – und dieser Friede hatte nichts mit dem Venus-Transit zu tun –, und die Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse fremder, auch feindlicher Nationen war im 18. Jahrhundert nichts so Besonderes. Viel eher erwähnenswert war etwa, dass die Expeditionen von 1761 – mitten im Siebenjährigen Krieg – unter gegenseitiger Tolerierung der Engländer und Franzosen durchgeführt wurden. Auch schon 1761 war die Publikation und der Austausch der – leider ungenügenden – Daten eine Selbstverständlichkeit. Und so viel kooperativer war die Zusammenarbeit der Forscher 1769 dann auch wieder nicht, wie auch Schmidts deutlich vermittelt:

B.: Jedenfalls entstand eine ganze Literatur um den großen Venusdurchgang von 1769. – Die Engländer fassten ihre Beobachtungen zusammen in vielen Nummern der ‹Philosophical Transactions›. Die Franzosen in den ‹Mémoires de l’Académie Française›; und in dem wichtigen Werk Lalande’s ‹Mémoire sur le Passage de Venus›. Die Schweden gaben ein eigenes Heft heraus. Ebenso die Amerikaner in ihren jungen ‹Memoirs of the American Academy›, und den ‹American Transactions›. Die kalifornischen Beobachtungen wurden zusammengefaßt von Cassini. Die zahlreichen russischen erschienen in einem eigenen Foliobande: ‹Collectio omnium observationum quae occasione transitus Veneris jussu Augustae per imperium Russicum institutae fuerunt. Petropoli 1770.›
A.: Die endgültigen Berechnungen ergaben für die gesuchte Entfernung Sonne=Erde Werte zwischen 145 und 155 Millionen Kilometer; jenachdem die Rechner das Hauptgewicht auf diese oder jene Beobachtung legten – eine knifflige und äußerst schwer zu entscheidende Frage. Während wir heute wissen, daß die Sonnenparallaxe 8,79 Sekunden beträgt, erhielt damals der schwedische Rechner Planmann – der, begreiflicherweise, den Akzent auf seine, und die übrigen nordischen Beobachtungen legte – 8,43 Sekunden. Der Engländer Lexell 8,60; wobei er hauptsächlich die Messungen von Tahiti zugrunde legte, die also das Ergebnis entscheidend verschlechterten. Euler in Petersburg erhielt 8,68; Hell 8,70. [II/1, 273 f.]

Es kann also mit einiger Berechtigung bezweifelt werden, ob die von Schmidt mit soviel Pathos in den Vordergrund gerückte politische Einigkeit Europas sich nun gerade an diesem Fall so einmalig und einzigartig eingestellt hat. Schmidt hat diesen Aufhänger wahrscheinlich aus einer verkaufstaktischen Erwägung heraus gewählt: Da er 1956 für das behandelte historische Ereignis nicht die Rechtfertigung eines runden Jubiläums hatte, versuchte er, es in den Rahmen der für die 50er Jahre zentralen politischen Diskussion um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einzustellen.

Leicht aktualisierter Auszug aus dem Vortrag:
Julianische Tage in Lilienthal
Astronomisches bei Arno Schmidt

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Aus meinem Poesiealbum (XII) – Mond

11. Mai 2012

Am Abend geht der Mond auf, seine feine gebogene Sichel ist wie der Pantoffel einer Chinesin.

Gustave Flaubert
Reisetagebuch 1858

[…] die Sonne begann zu sinken, und auf der gegenüberliegenden Seite des Himmels zog bereits die Sichel des Mondes herauf.

Gustave Flaubert
Salambo

»Könnten Sie mal bei Walter Scott, im Original, nachsehen«, fiel mir als weitere Bestechung für ihn ein : »Da kommt im ‹Herz von Midlothian› das Phänomen vor, daß ‹der volle Mond breit im Nordwesten› aufsteigt.« Er hatte mir lässig das verbrauchte Profil hingehalten, und fragte jetzt vornehm erschöpft : »Warum ? Gibt’s das nicht ?« (Man ist also doch letzten Endes allein !).

Arno Schmidt
Rollende Nacht

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Allen Lesern ins Stammbuch (48)

23. Januar 2012

»Höchstes Glück der Erdenkinder?« fragte er haßvoll: »Nennen Sie mir einen anständigen Schriftsteller, der gern geschrieben hätte: lieber zeitlebens Scheiße schippen! –: Sind Sie Ihrer Individualität noch nie müde geworden?« Ich senkte den Kopf; ich nickte; es ging ihn zwar nischt an, aber: ja. Täglich etwa zweimal. »Na sehen Sie,« sagte er versöhnt.

Arno Schmidt
Tina oder über die Unsterblichkeit

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Arno Schmidt: Schwarze Spiegel

9. September 2011
Des Menschen Leben : das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch ! !) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation.

AS-BRHAuf den ersten Blick ist Arno Schmidt erster Zukunftsroman ein Musterbeispiel für einen 100-Seiter. Doch könnte man Bedenken erheben: Zum einen hat Schmidt von seinem Roman »Das steinerne Herz« behauptet, er sei aufgrund der »Dehydrierung« des Textes eigentlich »ein Roman von 1200 Seiten« (was bei knapp 300 Druckseiten immerhin einem Faktor größer 4 entspricht), eine Rechnung, die man getrost auch für »Schwarze Spiegel« aufmachen kann. Zum anderen könnte die Zugehörigkeit von »Schwarze Spiegel« zur Trilogie »Nobodaddy’s Kinder« zur Annahme verleiten, dass auch dieses Buch wie die beiden anderen einen dritten Teil haben müsste.

Doch halten wir uns ans Augenscheinliche: Erzählt werden die Erlebnisse des beinahe letzten Menschen nachdem der atomare Dritte Weltkrieg Mitte der 50-er Jahre die Welt zerstört hat. Fünf Jahre nach der Katastrophe kommt der namenlose Ich-Erzähler nach Cordingen in der Lüneburger Heide und beschließt, dort eine Hütte im Wald zu bauen. Holz liefert ein nahegelegenes Sägewerk, Vorräte ein englisches Armeedepot. Über Bau und Ausstattung der Hütte vergeht der Sommer. Der zweite Teil setzt zwei Jahre später ein, als sich zum Erzähler die letzte Frau gesellt: Lisa. Die beiden verbringen einige Wochen miteinander, doch dann bricht Lisa wieder auf, da sie die Sesshaftigkeit nicht aushält. Ein dritter Teil fehlt, wie gesagt: Lisa kehrt nicht zurück, die Menschheit wird nicht fortgesetzt.

Diese idyllische Dystopie mit Anklängen an »Robinson Crusoe« und Coopers »Lederstrumpf« bietet einen hervorragenden Einstieg in Schmidts erzählerisches Frühwerk.

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. In: Brand’s Haide. Zwei Erzählungen. Reinbek: Rowohlt, 1951. Leinen, Fadenheftung, Schutzumschlag mit Zeichnung des Autors, 260 Seiten.

(Geschrieben für die Reihe 100 Seiten beim Umblätterer.)

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Uwe Timm: Freitisch

1. September 2011
Wat wullen Se denn? Ich frage, wo Arno Schmidt wohnt. Da hat der Bauer in die Dunkelheit gezeigt. Und gesagt: Kümmt immer wieder ener. De let keenen vor.

978-3-462-04318-1Es ist heute schon eine angenehme Ausnahme, wenn ein erzählender Text mit der spezifischen Gattungsbezeichnung Novelle versehen ist und nicht mit dem allgemeinen Vertriebslabel Roman beklebt wird. Wenn dann zudem tatsächlich eine »sich ereignete unerhörte Begebenheit« – wenn auch in ironischer Brechung – den Höhepunkt der Erzählung bildet, kann man als Leser höchst zufrieden sein.

Uwe Timms »Freitisch« erzählt von der Begegnung zweier alter Münchner Studienkollegen in einer Kleinstadt an der Peene. Der eine der beiden, der Ich- Erzähler, ist pensionierter Studienrat, Deutsch und Geschichte, der andere ein Fachmann für Müllentsorgung, der für die Stadt eine neue Deponie planen soll. Kennengelernt haben sie sich Mitte der 1960er Jahre am Freitisch einer Versicherungsgesellschaft, einem Vierertisch, den außer den beiden auch ein Jurist und ein weiterer Germanist mit dem Spitznamen Falkner regelmäßig frequentierten. Und an diesen Tisch hatte der damalige Mathematikstudent – daher sein Spitzname Euler – und jetzige höhere Müllmann die Arno-Schmidt- Lektüre eingeführt, ausgerechnet mit dem Band »Kühe in Halbtrauer«, damals die letzte Neuerscheinung Schmidts.

Da der pensionierte Studienrat aus der Zeitung erfahren hatte, dass Euler in die Stadt kommen werde, passt er ihn vor dem Rathaus ab, und man geht miteinander in ein Café am Ort und erinnert sich der alten Zeiten: Der eigenen Aufbruchstimmung, die mit der der 68er-Generation nicht viel gemeinsam hatte, der Schreibversuche, die nur Falkner schließlich zum Beruf gemacht hat, der Diskussionen um Arno Schmidt, die durchaus kontrovers waren, und schließlich auch zweier Fahrten Eulers nach Bargfeld, um den »Meister« persönlich kennenzulernen; auf der zweiten hatte ihn der Ich-Erzähler begleitet. Und auf dieser Fahrt geschieht dann das Unerhörte: Durch einen Trick – der hier natürlich nicht verraten wird – gelingt es Euler diesmal (beim ersten Besuch hatte sich Schmidt nicht sehen lassen) tatsächlich, den »Meister« neugierig zu machen und an den Zaun zu locken. Als das Gespräch erst einmal eröffnet ist, darf Euler auch eintreten und bekommt sogar die mitgebrachten Exemplare von »Kühe in Halbtrauer« signiert. Allerdings erhält er auch verbindlichst Auskunft über die Texte, die er Schmidt vorab zugeschickt hatte, was seine Stimmung gründlich ruiniert. Diese Begegnung findet übrigens Anfang August 1965 statt, also kurz bevor Schmidt in die Niederschrift von »Zettel’s Traum« abtaucht.

Doch ist Schmidt nicht nur in den Erinnerungen der beiden alten Freunde präsent: Der Text ist durchwirkt mit zahlreichen Schmidt-Zitaten und -Anspielungen. Auch ist es sicherlich kein Zufall, dass gerade der Band »Kühe in Halbtrauer« als zentrales Paradigma Schmidtschen Schreibens benutzt wird, denn nicht nur die Erzählung »‹Piporakemes!›«, die Timm explizit heraushebt, stand bei der Entstehung der Novelle Pate, sondern sie ist als Erzählung über zwei sich erinnernde Alte auch eine Variation auf »Kühe in Halbtrauer« selbst. Und auch in den hier und da eingeschobenen Kleinsterzählungen und Anekdoten blitzt Schmidtsche Erzählkunst auf. Alles in allem eine höchst produktive, zugleich lakonische und intelligente Auseinandersetzung mit Arno Schmidt und seinem Erzählen, die jeglichen Versuch der Imitation oder Anbiederung vermeidet. Dass der Text bei all seiner Kunstfertigkeit auch für diejenigen attraktiv geblieben ist, die Schmidt nicht oder nur oberflächlich kennen, beweisen die zahlreichen positiven Besprechungen in den Feuilletons. Als Schmidt-Kenner und -Leser wünschte man sich, mehr solch gelungene Aneignungen zu Gesicht zu bekommen.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. Leinen, 136 Seiten. 16,95 €.

(geschrieben für den Bargfelder Boten, Lfg. 343–344.)

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Zum 100. Geburtstag von Tennessee Williams

26. März 2011

Morgens, in der Straßenbahn, sieht man deutlich die Verheerungen, die die Schriftsteller unter uns anrichten; wie sie uns ihre Gedankengänge, die verruchtesten Gebärden, aufzwingen. Gestern hob der junge Mensch mir gegenüber – er ist Student an der Technischen Hochschule, und las einen mir übrigens unbekannten ‹Tennessee Williams› (so hießen in meiner Jugend allenfalls die exotischen Verbrechertypen, ‹Alaska=Jim› und ‹Palisaden=Emil›!) – also der hob den Kopf, und besah mich mit so unverhüllter Mordgier, daß ich mir davor bebend den Hut tiefer in die Stirn zog; auch eine Station früher ausstieg (beinah wär ich zu spät ins Geschäft gekommen. Wahrscheinlich hatte er mich langsam von unten herauf in Scheiben geschnitten; oder in einen Sack gebunden, und mich von tobsüchtigen Irren mit Bleischuhen zertanzen lassen!).

Arno Schmidt
Was soll ich tun?

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Allen Lesern ins Stammbuch (40)

12. März 2011

Wohl ist Moderne Literatur ‹anspruchsvoll›, ist ‹kompliziert› und ‹schwer zu verstehen› – das ist ‹Das Leben› übrigens auch – aber von einem Buch, nur weil man es nicht so gemütlich wie gewohnt ‹vom Blatt lesen› kann, nun flink zu dekretieren, ‹es tauge nichts› : also das wäre einwandfrei ein Defekt im Leser !

Arno Schmidt

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zettels-traum-lesen.de in der »Welt«

4. Dezember 2010

Heute wurde in der »Welt« (Die literarische Welt, S. 2) von Marc Reichwein mein lektürebegleitendes Blog zettels-traum-lesen.de vorgestellt:

Solche Anerkennung freut einen natürlich.

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Zettel’s Traum lesen – die Lektüre wurde begonnen

2. November 2010

Mit einem Beitrag über das Motto, das »Zettel’s Traum« von Arno Schmidt vorangestellt wurde, habe ich meine dritte, diesmal von einem Blog begleitete Lektüre des Buches heute begonnen:

Das Motto | Zettels Traum lesen

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