Die winzigen Stühle auf der Baustelle vor meinem Fenster liegen jetzt nicht mehr am Rand der größten Grube, dem ehemaligen Sandkasten, sondern stehen am Straßenrand. Es wird nicht lange dauern, bis einer sie mitnimmt. Ein bißchen Lack, und sie sähen so gut wie neu aus. Wahrscheinlich wird man auch noch ein paar andere Dinge retten, nicht so einfach wie die Stühle, aber etwas von dem Holz könnte noch zu gebrauchen sein, man könnte die besten Stücke nehmen, abschleifen und Keile daraus schneiden, zum Beispiel, die werden immer gebraucht, in allen möglichen Abmessungen. Mit den Rohren ist es schon schwieriger, da müssen Durchmesser passen, Muffen, sie müssen aus dem richtigen Material sein, zur Wiederverwendung heutzutage am besten aus Kunststoff oder aus irgendeinem anständigen Metall, Kupfer etwa, das lohnte auch eine Fahrt zum Schrottplatz. Die Rohre auf der nachbarlichen Baustelle sehen allerdings aus, als könnte nur die rege Phantasie der Bauleute - oder neugieriger Passanten - ihnen noch irgendeinen Nutzen zutrauen. Vermutlich wird man sie doch verbuddeln.
Wie die Dinge damals im hinteren Teil des Gartens meiner Eltern: die Matratze im Beet, das Fahrrad, das einem Riesen gehört haben musste, der alte Kühlschrank. Ich erinnere mich an die eifrige Anstrengung, mit der wir Kinder diese Gegenstände aus ihrem Hügel gegraben haben, nur um sie anschließend wieder zuzuschütten, und an unsere komischen Gesichter nach getaner Arbeit, komisch, weil wir uns fast beleidigt fühlten durch die beharrliche Nutzlosigkeit unserer Ausgrabungsstücke. Da half alle Phantasie nicht weiter, das Zeug war völlig vernutzt und kaputt, außerdem dreckig auf die Art, die keine Reinigung rückgängig machen kann. Doch diese Mängel allein hätten uns noch nicht gehindert, etwas mit unseren Funden anzufangen, was daraus zu machen, etwas Anderes, Neues. Der Haken war, dass die Schrauben am Fahrrad sich nicht lockern ließen, nicht mal die unterm Sattel, und dass weder der Kühlschrank noch die Matratze den geringsten Anlass zur Hoffnung gaben, sie könnten je etwas anderes darstellen als einen Kühlschrank und eine Matratze. Über andere Bedeutungen waren sie einfach erhaben. Also sind sie immer noch in diesem Hügel.
Eingegraben wird auf Baustellen, was sich weder benutzen noch verscherbeln, noch ummodeln lässt, Dinge, die nur "einen einzigen Sinn" haben, denn den behalten sie, auch wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen.
06.10.2005 14:34:00
Was eingegraben wird (2)
Als ich in dem Essay von Octavio Paz auf die Geschichte von Coatlicue stieß, interessierte mich daran natürlich der Aufwand, den man mit dem Wiedereingraben einer Kolossalstatue von immerhin anderthalb Tonnen Gewicht betrieb. Ich habe bislang keine Informationen über die Kosten dieser Maßnahme gefunden, aber es müssen etliche Arbeiter damit beschäftigt worden sein, allein das Ausheben der Grube auf der Plaza de Mayor muss mehr als einen Tag in Anspruch genommen haben, und das alles wurde in Kauf genommen, obwohl man im Jahre 1804 keinem Aberglauben mehr angehangen haben dürfte, der diesen Aufwand notwendig hätte erscheinen lassen können. Was immer Coatlicue im Kontext des aztekischen Kultus bedeutet haben mochte, die Statue war kein kultischer Gegenstand mit Beziehung zu irgendeiner Macht mehr, sondern längst Kunstwerk.
Dass "die mit dem Schlangenrock" bei vielen Betrachtern einen ästhetisch begründeten Widerwillen auslöste, ist sehr wahrscheinlich, doch das erklärt nicht die Empfindung, einem "unerträglichen" Anblick ausgesetzt zu sein. In Anbetracht der Historizität ihrer konkreten Bedeutung, ist man erst einmal geneigt, den Abscheu oder Schrecken, den Coatlicue hervorrief, für eine Übertreibung zu halten, vergleichbar der Reaktion eines Kindes auf das Ungeheuer im Film oder im Märchenbuch. Dann genügte es, das Buch zuzuklappen oder aus dem abgedunkelten Vorführraum nach draußen zu gehen, wo man es wieder mit Realitäten zu tun hat. Der Grund für das Eingraben der "schrecklichen Statue" konnte aber weder ausschließlich im Widerwillen gegen ihre Hässlichkeit noch in ihrer Bedeutung für irgendeine tote Religion gelegen haben. In der Unerträglichkeit ihres Anblicks selbst lag etwas vergraben, das damals im Empfinden der Betrachter an etwas Reales rührte.
Dazu Paz: "Das, was wir Kunstwerk nennen (...), ist vielleicht nichts anderes als eine Konfiguration von Zeichen. Jeder Betrachter kombiniert diese Zeichen auf eine andere Weise, und jede Kombination strahlt eine andere Bedeutung aus. Gleichwohl mündet die Pluralität von Bedeutungen in einen einzigen Sinn, in immer den gleichen, der vom Empfundenen untrennbar ist."
12.10.2005 15:34:44
Grabung (1)
Am 13. August 1790, als Bauarbeiter auf der Plaza Mayor in Mexiko-Stadt Schachtarbeiten ausführten, stießen sie auf eine Statue von kolossalen Ausmaßen. Sie gruben sie aus, und es stellte sich heraus, daß es eine Skulptur der Göttin Coatlicue, der "mit dem Schlangenrock", war. Der Vizekönig ordnete sofort an, daß sie als "ein Denkmal des amerikanischen Altertums" in die Königliche und Erzbischöfliche Universität von Mexiko gebracht werde. Jahre zuvor hatte Carlos III. der Universität eine Sammlung von Gipskopien griechisch-römischer Werke geschenkt; zwischen ihnen wurde Coatlicue aufgestellt. Nicht für lange: nach wenigen Monaten beschlossen die Universitätsprofessoren, sie wieder zu vergraben, und zwar an demselben Ort, wo man sie gefunden hatte. Gleichwohl hatte der Gelehrte Antonio de Léon y Gama Zeit gefunden, von der Statue und einem anderen Stein, der neben ihr gefunden worden war, dem Azteken-Kalender, eine Beschreibung zu machen. Die Aufzeichnungen wurden jedoch erst 1804 in Rom veröffentlicht. Alexander von Humboldt, der sich in eben diesem Jahr in Mexiko aufhielt, las sie höchstwahrscheinlich in dieser italienischen Übersetzung. Er äußerte den Wunsch, wie der Historiker Ignacio Bernal berichtet, die Statue in Augenschein nehmen zu dürfen. Die Obrigkeit gab seiner Bitte statt, man grub die Statue aus, und als der deutsche Gelehrte seine Neugier befriedigt hatte, vergrub man sie wieder. Der Anblick der schrecklichen Statue war unerträglich.
(Octavio Paz, aus: Die Kunst Mexikos. Materie und Bedeutung)
14.07.2005 12:44:21
Grabung (2)
Im Frühjahr 1985 machte der japanische Taucher Kihachiro Artake vor der Küste der Insel Okinawa im Pazifik eine aufregende Entdeckung. Artake war an jenem Tage nur 300 Meter von der Küste Yonaguni entfernt in rund 30 Metern Tiefe unterwegs, um interessante Plätze im Meer aufzuspüren, zu denen er die Touristen führen konnte. Blau schimmerndes Wasser, viele Fische und Korallen – alles, was der tauchende Tourist sich wünscht.
Doch plötzlich sah er sich etwas Seltsamem gegenüber: vor ihm erschien eine rätselhafte Struktur mit akkuraten Kanten und rechten Winkeln, Plattformen, Stiegen und seltsamen Terrassen. Ein scheinbar künstlicher Felsen von über 100 Metern Länge und 25 Metern Höhe schlummerte auf dem Meeresgrund.
In Japan zog die Entdeckung weite Kreise. Sollte man hier direkt vor der Haustür die Spuren einer uralten Zivilisation gefunden haben? Hatte man es hier mit einer Hinterlassenschaft zu tun, die ein unbekanntes Volk vor unzähligen Jahrtausenden schuf? Waren es gar die Reste des mythischen Kontinentes Mu, der laut Legenden einstmals im Pazifik versank - ein Atlantis des Stillen Ozeans?
(aus dem Artikel von Lars A. Fischinger: "Das japanische Atlantis")
28.08.2006 19:07:53
Grabung (3)
Neulich bekam ein Wissenschaftler eine weitere Metapher in den Griff. Tief im Schlamm Javas fand er den "Meganthropus paleo javanicus", den "großen Menschen", den Riesen, der, wie uns die Paläontologen nun berichten, unser menschlicher Vorfahre war. Und für viele wurde er wirklicher als der Zyklop oder der Riese im Märchen von den Kletterbohnen. Diejenigen, die der poetische Traum nicht überzeugen konnte (...), sie besitzen nun die Sicherheit einer heute gefundenen 500.000 Jahre alten Wahrheit.
Barnett Newman: Der erste Mensch war ein Künstler, in: Die Erfindung der Gegenwart